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Bericht

Name des Laufes:Maratona Ticino
mehr zum Lauf: VID992
Datum des Laufes:14.11.2004 (Sun)
Ort:Tenero
Plz:CH
Homepage:http://www.maratona-ticino.ch/index_de.htm
Strecken:MA
Beschaffenheit:Asphalt
Profil:flach
Wetter:Wolkenlos, bis ca. 17°, böiger Wind
Teilnehmer:ca. 300
Name des Berichtenden:Michael Krüger
(Autor-LID zuordnen: Login und [Edit])

Bericht vom 23.11.2004 (Tue)
Im November 2003 lief ich im Tessin Marathon unvorsichtigerweise 3:05:10. Das ist nämlich eine Zeit, die einem keine Wahl lässt. "Die fünf Minuten schaffst Du auch noch", meinte Conny und wer würde einer Frau widersprechen wollen. Ok, kann man vielleicht in Einzelfällen mal wagen, aber nicht bei einer leibhaftigen Biel-Siegerin! Bemerkenswert ist hier vor allem eines: offensichtlich stellt sich die Frage gar nicht, OB man die ominöse 3-Stunden-Schallmauer überhaupt unterbieten will oder nicht. Die Antwort ist schlicht: man will. Deshalb heißt sie auch die "begehrte" 3-Stunden-Grenze. Wer das schafft, hat nach Manfred Steffny einen "großen persönlichen Erfolg" erzielt.

Fünf Minuten auf 42 Kilometer und 195 Meter, das ist ja eine Kleinigkeit. Man muss lediglich jeden Kilometer 8 Sekunden schneller sein. Öh, also praktisch nicht zu schaffen, oder? Das ist ja fast so schnell wie bei meinem letzten Halbmarathon, sagte ich mir und versuchte mal den Gedanken zu verdrängen, dass ich damals nicht die geringste Lust verspürte, im Ziel noch eine zweite Runde dran zu hängen.

Schwieriges bringt man besser gleich hinter sich, z.B. beim Freiburg-Marathon, Ende März 2004. Da kann man sich in Teningen schon mal im Januar auf 10km testen. 1,5 Minuten langsamer als im November zuvor, nicht mal unter 40 Minuten. Ernüchternd, da rettet einen höchstens noch eine Portion Shin Splints, ein Beinbruch oder eine handfeste Angina. Glück gehabt, im Februar kam die Angina und die Drei-Stunden-Pläne konnten erstmal ad acta gelegt werden. Immerhin erwuchs beim Freiburg-Marathon die Erkenntnis, dass auch mit revolutionärer Vorbereitung in Form von Verzicht auf Tapering und Carbo-Loading, dafür mit Rotwein am Vorabend eine 3h08 drin war.

Nach vielen Ultra-Kilometern im Sommer und den ausgeheilten Wehwechen vom Spreelauf kam eigentlich nur wieder der Tessin-Marathon in Frage, Mitte November. Der liegt so schön spät, dass man noch von spezifischer Vorbereitung sprechen kann. Knapp zwei Monate mussten reichen, um aus dem Ultra-Schlappschritt einen Marathon-Shuffle zu machen. Immerhin war die Ausdauerdecke breit, was sich auf die Dimension der Brust auswirkt, man kommt kaum zur Tür rein. Darauf packte ich also etwas Tempotraining, und das gibt bei mir dazu passend dicke Waden. Die nötige Praxisnähe erwarb ich mir bei einem Halbmarathon. Der bewährte Lauf in Maximiliansau brachte 1:26:15 und die Erkenntnis, dass sich bei Kilometer 18 eine 4:13 pro Kilometer ganz schon hart anfühlen kann. Ralf Milke diagnostizierte fehlenden Killerinstinkt. Also gleich am Donnerstag drauf sechs 1000er in 3:38. Tödlicher geht's nicht.

Flott, hart, sehr müde, wieder besser, prima, locker, bissel müde, so wechselten sich die Tagebucheinträge ab. Die 35er am Wochenende wurden auf den letzten Kilometern mit Marathonrenntempo garniert. Das klappte bestens und die Zuversicht stieg. Sah ja gut aus für den Schwäbische Alb-Marathon, drei Wochen vor dem Tessin. Allerdings, die Suche nach einem 3h-Trainingsplan, der drei Wochen zuvor einen bergigen 50er empfiehlt, erwies sich als vergeblich. Aber wichtige Ziele (Europacup-Wertung der Supermarathone) erfordern halt unkonventionelle Maßnahmen. Also wird auf der Alb der Killerinstinkt trainiert. Kein Mitleid mehr ab Kilometer 25! Auf den letzen fünf Kilometern zelebrierte ich noch eine Oscar-verdächtige Monica-Seles-Sound-Machine. Beim Foto auf der Zielgeraden erkannte ich mich nicht wieder. Der Glöckner von Dingsda? Die 3h-Pläne wurden mit den bereits im Ziel befindlichen Cracks diskutiert. "Könnte knapp werden." Vielleicht doch besser nach Hollywood statt ins Tessin?

Nichts da. So ein Bestzeitenversuch auf bekanntem Kurs hat was. Man kann schon Wochen vorher seinen Lauf visualisieren. Ich sehe mich von Tenero weg die langen Geraden der Magadinoebene hinaus laufen, die Pace fühlt sich klasse an. Entlang am Ufer des Lago Maggiore hinüber nach Locarno und auf gleicher Strecke zurück zum Start, dann auf die zweite Runde. 42,195 km strukturiert in handliche Portionen. Ich weiß, hier gibt es außer am Anfang nur 5 km-Markierungen. Getränke, Schwämme, alles da, keine Überraschungen.

Am Samstag vor dem Lauf ist die Stimmung zuversichtlich, 17°C bei herrlichem Wetter laden ein zu einem Spaziergang auf der Marathonstrecke, da kann man schon mal Witterung aufnehmen. Herbstlaub bedeckt den Seeuferweg und mit einem Mal wirbelt böiger Wind die Blätter um meine Nase. Am Nachmittag bestätigt Frau Antognioli von der Orga, morgen wird's noch schlimmer. Glücklicherweise tobt sich der Föhn schon mal nachts aus. Der Sturm rüttelt die halbe Nacht an der Schweizer Fahne vor dem Fenster, aber wer schläft schon in der Nacht vor einem Marathon? Ich schon, aber nicht bei einem solchen Lärm.

Egal, um 10 Uhr stehe ich hellwach an der Startlinie. Zur Begrüßung frischt der Wind kurz auf. Kann ja heiter werden. Egal, im Moment gibt es nur Plan A für mich. Kilometer 1 wird in 4:08 absolviert, also noch etwas Tempo rausnehmen. Kilometer 2 in 4:15, perfekt. Ich suche Schutz vor dem Wind in der einen oder anderen Gruppe, aber noch ist das Tempo um mich herum unruhig. Nach fünf Kilometern gibt sich das, aber jetzt steht die erste Getränkestelle an. "Wasser, Tee, (Rivella) Marathon" schreit es durcheinander, die Läufer vor mir schnappen alles aus den Händen der Helfer weg, ich gehe leer aus. Anfängerhafte Taktik, was soll's, bald gibt's wieder was.

Um mich herum scheint sich die Frauenspitze auf eine Zeit um die 3h einzupendeln, hier und da machen sie sich jetzt schon die Positionen streitig. Die spätere Siegerin hat einen Pacer neben sich, sie laufen gleichmäßig, genau mein Tempo. Die ersten zehn Kilometer in 41:49, die bange Frage, ob das zu flott ist, beantworte ich mir mit "kommt vom Rückenwind". Auf den nächsten Kilometern werde ich das Gefühl nicht los, dass wir etwas langsamer werden. In der Tat, 21:41 für fünf Kilometer ist zu langsam. Ich löse mich von meinen Mitläufern, das Feld von unter 300 Teilnehmern hat sich jetzt schon auseinandergezogen und ich mache nun ganz mein eigenes Tempo. Trotzdem sieht der nächste 5km-Split nicht besser aus, jetzt habe ich nämlich den Wind wieder gegen mich. Mit dem Polster aus der ersten Phase reicht es dennoch zu 1:29:50 zur Halbzeit.

Runde 2, es gilt! Dem jetzt stärker auffrischenden Wind muss ich jetzt alleine trotzen. In einer Unterführung komme ich mir vor wie bei einem Windkanalversuch. Mir kommt ein Buch über mentales Training in den Sinn, das ich vor Urzeiten gelesen habe. Du lernst kein Buckelpistenfahren, wenn du die Buckel als Gegner betrachtest. Der Buckel hilft bei der Entlastung, er ist dein Freund. Genau! Der Wind ist mein Freund, nach wenigen Kilometern wird er mir als Rückenwind zu flottem Tempo verhelfen.

Tags zuvor habe ich in letzter Minute noch ein paar Gelpäckchen gekauft. Im Vorfeld war ich am Schwanken, die Transportfrage nervt mich immer. Seit Kilometer 15 nahm ich regelmässig eines, aber das Zeug ist eklig süss und unerwartet zäh, so dass ich mittlerweile beim Versuch, den Inhalt runter zu bekommen, mehr japse als mir lieb ist. Daher nehme ich nur noch von den angebotenen Getränken. Kilometer 30, vorbei am Start-/Zielgelände des Centro Sportivo, die letzten 10 km im 4:13er Schnitt, aber meine Marschtabelle war etwas offensiver ausgelegt, ich bin 50 Sekunden zurück. Würde aber immer noch reichen...

Ein zweites Mal hinüber nach Locarno, am Seeufer entlang, aber jetzt überhole ich immer wieder Läufer. Gelegentlich gibt es Spaziergänger, die ein aufmunterndes "Forza!" rufen. Genau, stark sein, nicht nachlassen, Tempo hoch halten, etwas vom Rückenwind profitieren, 20:48 für Kilometer 30-35, das sieht doch gut aus! Noch einmal durch diesen seltsamen Kreisel in Locarno, von jetzt ab geht es nur noch zurück, gut sechs Kilometer. Ich spüre, dass ich meine Kohlenhydrate verpulvert habe, tiefe Atemzüge pumpen soviel Sauerstoff wie möglich in den Körper. Die auf der Begegnungsstrecke entgegen Kommenden sehen irgendwie locker aus, aber sie haben noch einiges vor sich, bei mir sind es nur noch fünf Kilometer, doch den Wind habe ich nun gegen mich, der Blick wird enger und enger... Eine saftige Böe erfasst mich und bremst mich fast auf Null. Der Wind ist mein Freund? "Sch..sse" brülle ich um mir Luft zu machen, neben mir erkennt ein Spaziergänger offensichtlich meine momentane Verfassung und feuert mich an: "FORZA!" und wie auf Kommando eröffne ich den Kampf.

Bei Kilometer 38 steht eine Markierung, ich beginne zu rechnen. Wenn ich bei Kilometer 40 unter 2h50 bleibe, kann eigentlich nichts mehr schief gehen. Das sollte doch zu schaffen sein. Tempo hoch halten, Wind ignorieren, verschwitzt, verklebt, mit Salzrändern auf der Haut, stöhnend hetze ich an den lustwandelden Sonntagsspaziergängern vorbei, irgendwie irreal wirkt die Situation auf mich, aber die berühmte Sinnfrage stelle ich mir keine Sekunde. Ich will diese 3h unterbieten und an der Markierung mit der 40 steht die Uhr auf 2:49:51. Das muss es doch sein, ich passiere das letzte Mal eine Verpflegungsstelle, nein ich will nichts mehr, ich will nur noch dieses rote Backsteingebäude sehen, mit jedem Schritt kommt es näher, ein letztes Mal an der Markierung das Tempo überprüfen, 4:27, das ist zu langsam, wo ist der Killerinstinkt, flamme rouge, jetzt gebe ich alles was drin ist, die letzte Kurve, die Zielgerade ist gesäumt mit Zuschauern, ein letzter Blick auf die Uhr, ja es reicht, den letzten Kilometer nochmal in 4:11 absolviert, dort vorne ist das Zieltor, ich erkenne die Zeitanzeige im Ziel, 2:59 steht vorne, die letzten Meter, 2:59:18.

Kurzes Verschnaufen, dann tiefe Zufriedenheit. Keine Neigung zu Krämpfen wie das Jahr zuvor, dafür stahlharte Waden. Ein Läufer kommt lächelnd auf mich zu. Wir wechseln ein paar Worte, er bedankt sich für den Windschatten, den ich ihm zeitweise geboten habe. Ich erwähne, dass es für mich das erste Mal unter 3h war. Er lächelt wissend. Trinken. Auslaufen. Genießen.



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