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Bericht

Name des Laufes:35. real,- Berlin-Marathon
mehr zum Lauf: VID6607
Datum des Laufes:28.9.2008 (Sun)
Ort:Berlin
Plz:D1
Homepage:http://www.real-berlin-marathon.com
Strecken:42195
Beschaffenheit:Asphalt
Profil:flach
Wetter:sonnig, etwa 10 bis 15°C
Teilnehmer:40k
Name des Berichtenden: redcap LID4543
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Bericht vom 7.11.2008 (Fri)
Es fiept leise, flach und ohne Tiefe. Nicht dieses penetrante, regelrecht gemeine Gepiepse meines Weckers zuhause. Nein, es ist mein Handy, ganz leise und sanft. Ich könnte ja kurz drücken und weiterschlafen, aber es ist nicht so, daß dies nur eine kurze weitere Störung in einer unruhigen Nacht sei. Nein, ich habe zwar nur recht kurz geschlafen, aber ich habe gut und vor allem tief geschlafen. Die mich umgebende Atmosphäre ist noch immer die der Nacht, es ist völlig still, das einzige Licht ist das von den an der Straße aufgereihten Laternen, das durch die Ritzen der heruntergelassenen Rollos Teile des Raumes in schwaches Licht setzen, meine an die Dunkelheit gewöhnten Augen lassen mich den ganzen Raum erkennen.
Ich bin kein Morgenmensch. Für gewöhnlich stürzt der Tag durch Wecken nur so auf mich herab, mein noch halbschlafender Körper wehrt sich gegen die Aufnahme sämtlicher Sinnesreize, alles wäh, bis ich den mich begrüßenden Tag auch begrüßen möchte, das braucht seine Zeit. Wenn dann überhaupt noch Morgen ist...
Aber nun, es fiept, und ich bin völlig wach, alles prima.
Inzwischen aufgerichtet sitze ich auf der Couch, meinem Schlafplatz der Nacht, im Wohnraum des Ferienhauses in Woltersdorf östlich direkt vor den Toren Berlins. Die hohe Decke, hinter mir die Eßecke, in der wir gestern noch gemeinsam gesessen haben, vor der Couch der ausgeschaltete Fernseher, der mich die etwa um ein Uhr zum Schlafen ausreichend müde mit irgend einem faden Programm gedudelt hat. Ein paar Minuten bin ich jetzt wach, nun dürfte es etwa 4 Uhr 35 sein. Die anderen, versprenkelt auf die einzelnen Schlafräume des zweistöckigen Hauses, schlafen noch und werden es wohl noch ein Weilchen tun.
Nein, ich nicht. Zwar spüre ich bisher nicht, daß heute noch vor Mittag etwas Besonders zu tun ist, aber ich weiß es. Eine gewisse Routine gibt dem Ganzen Struktur, es ist doch das Ungewisse, das Dinge ungewöhnlich macht. Ich weiß genau um den Ablauf. Marathon. Start in viereinhalb Stunden von Beginn des Aufwachens. Aufnahme eines leichten Frühstücks bestehend aus Weizenvollkornflocken mit wenig Milch bis etwa vier Stunden vor dem Start.
Vorher, direkt nach dem Aufwachen, trinke ich einen Liter Wasser gegen den Flüssigkeitsverlust der Nacht und für die Ankurbelung von Kreislauf und Verdauung. Durch das Wasser brauche ich nicht mal einen Kaffee, um mich noch vor dem Frühstück für ein paar ruhige Minuten der Besinnung am Lesen von leichter Lektüre gütlich zu tun.
Trinken: Wenn das Frühstück den Magen passiert hat, etwa anderthalb Stunden vor dem Start, gibt es nochmal einen dreiviertel Liter Wasser.
Vorgeplänkel, alles um vernünftig hydriert zu sein. Statisch sozusagen. Zehn Minuten vor Wetkampfbeginn startet die dynamische Phase, für die Verdauung regelrecht schon der Wettkampf. Dort führe ich mein Teekonzentrat mit. Die passende Verdünnung davon gibt es jetzt schonmal, etwa ein drittel Liter, ohne Durst. Würde die Belastung ausbleiben, würde ich es schnell wieder über die Nieren ausscheiden. Konzentriert ist mein Getränk mit Zucker soweit, die minimale Magenverweildauer zu erreichen, und neben der Flüssigkeit auch möglichst viel Glykogen zum Verbrauch nachzuliefern.
Vom Start weg, optimale Flüssigkeitsversorgung. Angenehm kühl wird es heute Vormittag sein, aber viel Schwitzen werde ich trotzdem, ein lockerer Jog wird es nicht werden, da reichen 10°C und ein Singlet, kurze Hose, Strümpfe, Schuhe. Ich sitze auf Toilette, mein Buch – die Tage in einer Vitrine herumliegen gesehen – „Als Woltersdorf noch Hollywood war“ liegt auf meinen Knien, aber ich sinniere über den nahen Marathon. Bisher war ich noch ganz ausgeglichen und ruhig. Na, kommt jetzt die Anspannung? Nö, noch nicht.

Szenenwechsel – Frank ist immer noch schlecht. Die Nacht hat er kein Auge zugetan, heute Morgen seinen Kopf in die Schüssel gehängt. Es ist sein erster Marathon. Er sagt, der Thuntischsalat von gestern beim Italiener sei schuld. Franks müder Blick geht aus dem Fenster, oder döst sogar ein Stückchen, sein Kopf ist angelehnt.
Wir befinden uns im Interregio von Frankfurt (Oder) nach Magdeburg.
Piet, dessen Idee – Geheimtipp sogar, denn der Zug ist fast völlig leer – es war, so auch noch ohne Zwischenstopp bis ins Zentrum von Berlin zu fahren, sitzt der anderen Seite des Ganges neben mir. Hier im Wagon sind wir zu fünft. Zwei fehlen. Die beiden, Graziela und Oli, werden den eine halbe Stunde später fahrenden Zug nehmen, damit sie nicht schon anderthalb Stunden vor dem Start vor Ort sein würden, Oli meint, soviel Zeit sei nicht nötig. Bitte.
Auf meiner Seite des Ganges sitzen außer Frank noch Michael und Bernd. Michael hat in Erwartung eines wegen seiner Achillessehnenreizung ihn nicht so überzeugenden Ergebnis heute, gestern sich noch fein Berlin angeschaut. Ich bin neidisch. Ja und Bernd, ein Bekannter von Michael aus Hagen, der ist Marathon- und Ultramarathon-Vielstarter, meist jedes Wochenende irgendwo, und somit auch recht unaufgeregt.
Wie fühle ich mich? Gestern verspürte ich noch eine gewisse Gleichgültigkeit. So gleichgültig kann es mir nicht gewesen sein, es war vielmehr eine Ohnmacht, heute bin ich dank der doch wieder zurückgewichenen Erkältung erleichtert. Ein gutes Gefühl.
Das ist sieben Tage und eine Nacht her, Samstag spät auf dem Rückweg vom Lichterlauf nahm mein nahendes Unheil beginnend mit zugesschwollenen Nasenschleimhäuten seinen Lauf, in der Nacht setzte dazu ein Frösteln ein, am Sonntag fühlte ich mich hundeelend, war fies erkältet. Nase, Hals, und... ach der ganze Körper krank und verseucht.
Mit welchem Eifer ich die nächsten Tage versuchte so eine Art von persönlichem Rekord in der Vernichtung einer Erkältungserkrankung aufzustellen, mit gleicher Zuversicht dachte ich in der zweiten Wochenhälfte, ich hätte es überstanden, und würde in den paar verbleibenden Tagen wieder vollends gesunden.
Am Freitag ging es auf die etwa 600km der Autofahrt nach Berlin. Die Temperaturwechsel von im Auto und während der Rastpausen außerhalb, am Nachmittag der lange Fußweg von unserem Parkplatz zur Marathonmesse, auf der Messe viel rumgelatscht, Halle rein, Halle raus. Im unbedingtem Vermeidungswillen zu Frieren, zog ich mich natürlich zu dick an. Wäre ich vor der Weiterfahrt nach Woltersdorf nicht so übervorsichtig gewesen, hätte mich obenrum nicht komplett umgezogen, mir frische Sache angezogen – und die Anderen ordentlich mit der Verzögerung genervt – hätte ich mich wohl komplett abgeschossen. Viel hat wohl nicht gefehlt. Die Vortagssprapazen reichten meiner Abwehr mehr als aus, ich hätte die Synchronisation der Rolle eines jeden Western-Schurkens tadellos übernehmen können. Ich merkte am Verhalten meiner Mitbewohner, wiese diese Anzweifelten, ob das am Folgetag überhaupt irgendetwas bei mir geben könnte.
Ein Frühstücksläufchen unternahm ich trotzdem, auch schon, um bloß die Routine nitch zu brechen. Von dieser „Unternehmung“ abgesehen, log ich fast den ganzen Samstag schön muckelig zugedeckt, bloß untätig rum. Und das halt, um soweit wieder genug Gesundheit in mich zu bekommen, um wieder frisch zu werden.
Nun sitze ich im Zug und fühle mich nicht krank. So ein wenig matschig bin ich noch im Rachenraum, aber eigentlich fühle ich mich gesund. Sehr gut. Langsam wird es auch draußen hell. Ich schaue aus dem Fenster, draußen ist Berlin.
Als ich 2000 das letzte Mal in Berlin und das letzte Mal beim Berlin Marathon war, war einer meiner ersten Eindrücke bei der Anreise mit dem Zug die riesige Baustelle, auf welcher der neue Hauptbahnhof im Entstehen begriffen war.
Heute bei meiner Ankunft erscheint mir der Ort mit dem fertigen Bahnhof drauf viel unspektakulärer. Raus aus dem Zug, Rolltreppe hinunter. Viel nehme ich nicht wahr. Ist halt ein Bahnhof. Streß und Anspannung verspürte ich heute bislang nicht, als sei Heute gewöhnlich.
Indes scheine ich aber sehr fokussiert zu sein, sonst würde die Umgebung mehr Kraft haben, um an mir zu reißen. Oder lediglich die gewöhnliche Konzentration, die zu einem Wettkampf gehört? Fokussiert auf meine zu erbringende Leistung, den Lauf versus beeindruckt durch eine gigantische Veranstaltung in unserer Hauptstadt, den Marathon. Braucht es /den/ Marathon für /den/ Lauf? Ach, schlecht ist das nicht, und man macht sich – so muß ich doch sagen – eine ganz andere Erinnerung als Geschenk. Nicht ganz grundlos hat der Bericht ab hier noch die eine oder andere Länge.
Eins der Bilder dieser Erinnerung, die ich mir durch Schließen der Augen auch lange nach dem Marathon unmittelbar wieder hervorhole, kommt aus der Szene im Hauptbahnhof. Das Abholen der Startunterlagen zentral in Berlin, die Autofahrt danach quer durch ganz Berlin, die Anreise mit dem Zug heute hinein, nichts konnte mir einen Vorgeschmack geben auf den Moment, in dem ich auf dem Weg aus dem Bahnhof ins mit etwas Abstand vor der großen Eingangsglasfront stehen bleibe. In Spiegelschrift lese ich „Berlin Hauptbahnhof“, schaue darunter vorbei hinaus auf den weitläufigen Vorplatz. Ich sehe Ströme an Menschen, gerichtet auf etwas geradeaus in knapp nicht mehr einzublickender Ferne, irgendwo zwischen ein paar kastenförmigen Gebäuden. Dort drüben sammeln sie sich. Vierzigtausend. Etwas weiter links erkenne ich die Ecktürme und die gläserne Kuppel des Reichstagsgebäudes, das Gebäude selbst wird durch einen anderen Klotz moderner Bauart verdeckt. Je weiter ich nach links blicke, umso rötlicher wirkt der Himmel. Morgenstimmung. Marathonmorgen, es dürfte etwa 7 Uhr 20 sein.
Ich stehe da, und mich überkommt das Gefühl, dies ist das große Ding. Das ganze Wochenende führe ich meine Kompaktkamera schon mit, jetzt muß ich einfach vermehrt Bilder schießen, möchte die Stimmung festhalten, teilen können.

Das ist alle so weitläufig und groß, nicht zusammengedrängt. Ohne die vielen Leute würde man sich in der Leere verlieren, so strömt man einfach mit. Zu wissen, wo es jetzt genau hingeht, ist überflüssig.
Den Leuten hinterher und einige Hundert Meter weiter haben wir eine Abzäunung erreicht, nur mit unseren Startnummern erhalten wir Durchlaß.
Nun drinnen befinden wir uns auf der großen Wiese mitsamt seines umschließenden Asphaltstreifens direkt vor dem Reichstagsgebäude. Wiese? Naja, Platz der Republik nennt sich das Teil und Wiese bedeutet, der Platz ist fast vollständig begrünt. Ist jedenfalls für vor und nach dem Lauf wirklich schön hier. Das liegt natürlich nicht nur am Platz, oder den ganzen Aufbauten für heute. Zugegeben, die schier endlose Dixi-Toilettenreihe sorgt für eine eher spezielle Ästhetik und die fast nicht geringere Zahl an Kleiderabgabezelten läßt mich große Augen machen.
Es sind die Menschen. Sie machen den Marathon noch vor Beginn zu einem Fest. Die Sprachen der Welt dringen mir ins Ohr, von überall her scheinen ihre Sprecher gekommen zu sein. Viele bekunden ihre Herkunft mit Flaggen oder man sieht es einfach an ihren Klamotten. Sie suchen die Nähe der Anderen, viel wird gequatscht und gelacht. Es gibt nur wenige angespannte Gesichter.
Ich mache mich auf ein, zwei Rundgänge, aber irgendwann wird es mir zuviel, bei all der gesellig ausgelassenen Stimmung brauche ich etwas Fokus fürs Kommende.
So ein Augenblick mit vier Plastikwänden und chemischem Gummibärchengeruch ist zwar dann gar nicht so falsch, gar unter anderem Aspekt essentiell, aber das was ich suche, finde ich, als ich mich schon zur baldigen Abgabe meiner Klamotten aufmache. Noch bin ich nichtmal umgezogen, aber das ist kein Problem.
Eine Bank. Sie steht mit der Stirnfläche zum Eingang, vor dem Nachbarzelt meines Zeltes. Und sie bietet mir regelrecht ihren Platz an. Übersieht denn jeder diesen abgeschiedenen Ort? Ich setze mich, es ist mein Platz. Ich mache eine Pause vom unter vielen Sein. Noch bin ich zwar Teil des Ganzen, aber nun bin ich mit mir selbst und partizipiere dabei an den Anderen als Andere. Gemütlich schaue ich zu, höre zu, fühle die allseits verströmte Freude mit.
Es sind dreißig Minuten bis zum Startschuß. Mit der Abgabe meines Kleiderbeutels ist es vorbei mit meiner inneren Ruhe, wie plötzlich zerrissen. Vorher, nachher – ich mach mich auf den Weg zum Start, die halbe Stunde scheint mehr als ausreichend, einfach den Massen hinterher, aber wie von jetzt auf gleich schlägt meine Stimmung um.
Ja wirklich, auf der Bank war so ein schöner, dichter Moment.
Nun frage ich mich nach wenigen Schritten, warum die denn alle so gleichmütig zum Start schlendern. Mit jedem kleinen Abzweig, mit jeder einzusehenden Geraden, verstärkt sich in mir das Unbehagen, ich könne zu spät dran sein. Sind die denn alle im Plan? Ich gehe nicht, ich schlängle mich in Tippelschritten zwischen diesen ganzen Leuten durch. Der Hauptstrom teilt sich an Abzweigen, inzwischen folge ich dem Weg der Beschilderung „A-D“. B ist mein Startblock, ich werde da hin müssen, wo der Startbogen aufgebaut ist, dorthin, wo dieses dichte Drängen von hier nach dort durch die Startmatte begrenzt ist, vor der Matte ist die Straße, völlig leer.
„A-D“ – auch hier scheinen alle die Ruhe weg zu haben. Das Horrorszenario, mich plötzlich hinten drin in Startblock H wiederzufinden, dort den Knall zu hören, drängt in meine Phantasie. Nein, ich kann hier nicht falsch sein. Aber das Startfeld muß doch jetzt endlich mal in Sicht- oder wenigstens in Hörweite kommen.
Wie weit ist das denn noch? Fast die Hälfte meiner Zeit von der Beutelabgabe bis zum Startschuß ist schon verbraucht, ich bin noch irgendwo in einem Wald, habe mich im Vorfeld gar nicht so informiert über das Wegnetz vom Reichstag zum Start, wollte mich nicht mit potentiellem Nervösmachendem belasten. Ich gehe ein paar Schritte, setze wieder zum Laufen an, mittlerweile ist es mir auch egal, durch den Wegesrand zu traben, auch wenn dort untern den Blättern große Steine lauern, die Fußgelenke knacken lassen können.
Mein Unbehagen ist noch dabei weiter zu wachsen, da fällt es von jetzt auf gleich in sich zusammen, alles vergessen, vor mir befindet sich das große Feld, ich bin raus aus dem Wald und drinnen im Berlin Marathon 2008. Ich erkenne etwas rechts von mir in der Absperrung befestigt ein großes A auf einem Schild, direkt vor mir ist eine Lücke in der Absperrung, umittelbar daneben prangt mir ein B entgegen.
Nun kann ich es mir auch erlauben, nochmal ein Stück zurück in den Wald zu gehen und mich ein letztes Mal an einem Strauch zu erleichtern. Gruppenpieseln, jaja, Stadtmarathon.
Ich stehe im Feld, erahne die dreißig, vierzig Tausend Läufer hinter mir. Wenige sind das vor mir nicht. Verdammt viele und zwar doch wider Erwarten. Ja, während ich so nach vorne schaue, schweift mein Blick über hunderte von Läufern. Die Startgerade hier in Berlin ist sehr breit.. Ich las am Vortag in der Zeitung die Liste der heutigen Favoriten. Das waren knapp 30 Personen, die langsamste Mann mit gemeldeter Zeit über 2:20. Streng genommen dürft der nur bei mir in B stehen. Aber nehme ich jetzt mal diese ganzen Favoriten, reichen nebeneinander gestellt locker mal grad für die erste Startreihe.
Ich stehe genau im Übergang von A zu B, wieviel Reihen mögen sich vor mir befinden? Zehn bestimmt. Es kommt mir nicht richtig vor, mich weiter nach vorne zu drängeln. Das ist Berlin, das hat bestimmt seine eigenen Gesetze, meine es wäre falsch, ich bleib hier stehen. Während ich so nachdenke, hockt sich der Typ direkt vor mir ab, und erleichtert seinen Harndrang auf den Boden. Richtige Befremdung löst das nicht bei mir aus, da hab ich auf der Fähre beim Bonn Triathlon schon anderes erlebt.
Für die letzten zehn Minuten bis Sekunde Null stehe ich hier, muß ich vielleicht auch nochmal? Aber nein, ich bleib jetzt hier, wird schon gehen, gleichzeitig ärgere ich mich, daß ein Rennen mit nicht leerer Blase schonmal nicht perfekt startet. Hätte ich mir eben einen kleineren Marathon aussuchen sollen, selbst schuld, abhaken, wenn es schlimm kommt, muß ich halt ein paar Sekunden stehend der Strecke herschenken.
Weiterhin – ich schaue mich um. Huiuiui, sind das viele Leute. Die laufen jetzt alle so schnell wie du. Vorfreude ob dieser so raren Stunden im Läuferleben macht sich breit. Wir sind alle von überall hierher gekommen, will jetzt , daß wir loslaufen. Ich recke meinen Kopf, sehe ich jemanden Bekanntes, jemanden, dessen Gesicht ich erkennen könnte, vielleicht Rolli aus dem RW-Forum? Der müßte hier irgendwo ganz in meiner Nähe sein. Nur, bis auf ein kleines Avatarbildchen im Kopf, habe ich ja keine Vorstellung wie er ausschaut. Möglicherweise erkennt er mich. Rufen mag ich aber auch nicht, lieber wieder in mich reinkonzentrieren, die bekannten Leute sind eben verpaßt, egal, halt später oder so. Ich bin soweit ganz bei mir, maximal noch ein paar typische durch Nervosität geprägte Wortwechsel mit meinen direkten Nachbarn, alles andere ist der Wust ganz weit weg von mir.
So weit weg wie ganz vorne, dort werden die die Läuferwelt prägenden Protagonisten des Tages vorgestellt, per Lautsprecher verstärkt, das dürfte bis zum letzten Mann und der letzten Frau ankommen.
Mal ganz ehrlich, den Haile hätte ich schon gerne mal mit eigenen Augen gesehen, er ist so ein Typ, auch wenn ihm das fast jeder wünscht, ein „good luck“ hätte ich sicher für ihn übrig gehabt und er hätte sich sicher drüber gefreut. Naja, ganz weit weg, zu spät, und eigentlich auch egal. Ich bin hier, um für mich, jetzt hier zu laufen. Dieser Augenblick, der diese kurze Zeitspanne, für die ich überhaupt hier in Berlin bin, für die ich trainiert habe, einleitet, der ist jetzt bald gekommen. Lange kann es nicht mehr dauern. Aber als dann plötzlich heruntergezählt wird, kommt es mir dann doch überraschend vor. Kein Zurück mehr, keine Möglichkeit irgendwas anders zu machen. Die Vorbereitung ist zu Ende.

Die kurz zuvor von den Läufern losgelassenen Luftballons verteilen sich in ihrem Weg nach oben über den Himmel. Der Startschuß fällt. Und während für ein paar endlose Sekunden überhaupt nichts vor mir zu passieren scheint, ertönt eine Fanfare.
Vorne muß jetzt Alarm angesagt sein. Einer Explosion gleich wird das Feld vorne expandieren, ein Höllentempo, der Rest dahinter drängt im gleichen Augenblick auch auf die Strecke. Und ich stehe! Los, los, los, los, los! Da muß doch was passieren. Ich komme mir total eingeengt vor. Ich warte.
Zuerst höre ich, wie wohl irgend etwas passiert, dann erkenne ich, wie sich Reihen vor mir auf breiter Front die Köpfe und Schultern von mir entfernen. Ganz langsam, aber es schwappt wie eine Welle nach hinten, ach ich bewege mich nun langsam gehend. Soweit ist der Startbogen nicht entfernt. Dieses Gehen um mich herum müßte allmälig in Laufen wandeln. Ich bin nicht hier, um mich trabend auf die Strecke zu begeben.
Einen konkreten Zeitplan habe ich nicht im Kopf, ich fühle mich nicht unter Druck gesetzt, ein ganz präzises Tempo treffen zu müssen. Aber ich weiß, daß ich, gute Tagesform vorausgesetzt, in einem ganz präzisen Tempo laufen kann. Das liegt irgendwo zwischen 3:43 und 3:45 pro Kilometer. Noch sicherer bin ich mir, das richtige Tempo erfühlen zu können, nach Empfindung zu laufen und das zu treffen, was für 42km gangbar ist.
Ich habe genug Erfahrung gesammelt und ich habe die Geschwindigkeit drauf, ich bin soweit – die Situation ist es nicht. Ich überquere die erste Zeitmeßmatte. Gehend. Nichts läuft um mich herum. Ich spüre ein heftiges Unwohlsein. Meine Uhr gerade gestartet, die Zeit läuft und wartet nicht auf mich. Am Liebsten würde ich jetzt durch alle durchlaufen, ein wenig remple ich, aber es bringt nichts. Nach endlos erscheinenden Sekunden wird allgemein gelaufen. Mensch, ich krieg die Krise. Was wollen die da vor mir laufen? Dem einen oder anderen mag ich die Angemessenheit seiner Startposition nicht ganz so abnehmen. Dabei stand ich theoretisch doch schon zu weit vorne. Ganz schön naiv, ich weiß, warum sollten, wenn geschätzt 500 Leute vor mir stehen, nicht ein gar nicht so geringer Teil deutlich langsamer laufen, als ich es tun werde. Welch ein Kontrast, bei meinem letzten geplanten schnellen Stadtmarathon im Frühjahr in Duisburg hatte ich nach wenigen hundert Metern mit dem Spitzengrüppchen in etwas Entfernung vor Augen, das gesamt Feld hinter mir. Und nun kommt es mir vor, als müsse ich mich durch das ganze Feld quetschen. Ist natürlich dummes Zeug, aber daß so viele vor mir auf der Strecke sind, diese wie verschlossen scheint, damit habe ich nicht gerechnet. Ich will mein Tempo laufen, doch ich ärgere mich. Dann setze ich zu meinem Marathonschritt an, lauf ich auch schon hier und da und sonstwo auf. Viele scheinen deutlich langsamer zu sein als ich.
Mit meinen Gedanken bin ich doch schon nicht mehr auf den ersten Kilometern, oder dem ersten des Marathons.
Bloß Laufen – zügig und fließend, im richtigen Tempo. Wo ich mich auf der Distanz von Null bis Zweiundvierzig befinde, will ich gar nicht wissen. Das Ziel wird von selbst näher kommen. Geduld. Oder vielleicht Genuß. Ich will mich nicht fühlen, wie bei irgendeinem Rennen und mich gegen andere durchsetzen. So will ich möglichst bald raus sein aus denen, die nicht das tun, was ich tue.
Nach einem gelaufenen Kilometer merke ich, ich bin zu schnell, oder vielmehr bin zu intensiv. Dabei offenbart mir meine Uhr eine Zeit mit einem Verlust von fast zehn Sekunden auf die Zeit in meinem Kopf. Diese Zeit setzt mein richtiges, nicht so ein gefühlt zu schnelles Tempo voraus. Aber das ist erstmal für den Lauf vergessen, hinter mir, wie das Gros derer, die das machen können, wofür sie hier sind. Ihren Laufen machen, in dem Tempo oder in Geselligkeit, ganz wie sie wollen oder können. Sie sollen sekundengenau anlaufen oder solange mitnehmen, was sie können. Das meine ich jetzt nicht arrogant, ich meine, sie laufen ihrs, ich meins.
Das Rennen kann nun beginnen. Mit meiner Loslösung aus den Anderen kann das Rennen nun beginnen. Ich kann jetzt dort laufen, wo ich möchte, habe Platz mir die Seite auszusuchen, kann einsehen, wo ich hintrete. Vielmehr möchte ich gar nicht, daß das Rennen beginnt, es soll einfach sein, wie ein andauernder Moment.
Mein Schritt ist vollständig gleichmäßig, ich muß nicht drücken, mich bemühen ein spezielles Tempo zu laufen. Ich komme mir vor, wie so eine aufgezogene Figur, durch das Aufziehen hält sie eine gewisse Menge Energie bereit, und läßt man sie los, setzt sie diese mit ihrem ureignen Tempo nach und nach frei, solange bis sie leer von dem ist, was sie antreibt. Mich jetzt aber nicht als Duracell-Häschen mit Becken katschig, katsching machend vorstellen bitte.
Aber es fühlt sich schon irre an. Ich könnte versuchen, es auszudrücken, als „ich müsste nichts tun“, aber das trifft es nicht ganz.
Das bin ich, der läuft, auf unzähligen Kilometern habe ich das geübt mit dem ausdauernd zügigen Laufen. Der Fußaufsatz, das Abrollen, der kräftige kurze Abstoß, bei dem der Impuls aus unterem Rücken, Bauch, Hüfte kommt, eben dieses kurze wiederkehrende Rumpfspannung auf eine kurze Spitze treiben, ja alles mit kurzem Bodenkontakt, bloß nicht festkleben auf der Straße. Hohe Schrittfrequenz, der Ablauf ist so automatisiert, ich muß mir nicht mehr bewußt klar machen, um es dennoch mitzuerleben. So als würde mein Verstand einen Sekundenbruchteil hinterherhinken, und ich würde erleben, das richtige jeweils schon getan zu haben.
Vor kurzem während eines Trainingslaufes habe ich mal meine Schrittfrequenz bei unterschiedlichen Tempi gemessen und festgestellt, selbst bei einem 5:30er Tempo schaffe ich noch unverkrampft 180 Schritte pro Minute. Und jetzt hier beim Tempo, deutlich schneller, sind die Kräfte einfach größer, ich mache weitere Schritte. Daß ich mich traue, soviel Kraft in jeden einzelnen Schritt zu legen, ja ich habe nunmal keine Zweifel, daß ich so viele Schritte wie benötigt in mir habe. lm Training habe ich gelernt, nach recht angestrengt lange unterwegs zu sein, aber nun, es kommt mir so einfach vor. Aber ich fühle wie schnell ich unterwegs bin. Irre ist das, noch nie bin ich so einfach so schnell gelaufen. Und das ausgerechnet jetzt und hier.
Daß ich überholt werde, bekomme ich nicht mit. Werde ich überholt? Ich halte mich, soweit dies möglich ist, auf der linken Seite des Feldes auf. Wie auf der Überholspur, muß ich sagen. Kein Einscheren von Gruppe zu Gruppe, nein, links bleiben, nächste Gruppe. So komme ich vorwärts, mitzuschwimmen würde das Gefühl trüben.
Aber ich kann – mit einer Ausnahme – nicht sagen, wo genau ich mich im Feld sämtlicher Läufer befinde. Nein, den ganzen Lauf ist mir das nicht ersichtlich, und wegen der für mich so ungewohnt vieler Läufer um mich herum auch nicht erfaßbar.
Sind halt ganz viele, und es ist schon ziemlich geil, wenn man begreift, daß die um einen herum genau das Gleiche machen, genau das gleiche Tempo laufen können, nicht schneller, nicht langsamer, wie man selbst. Im Training mal hier und da einer, aber diese Zahl, wow, dafür können die von so weit angereist. Wie ich und noch so viel weiter.

Versucht man, mit den Leuten zu reden, man merkt es, von woher sie alle kommen. Mit einem Ansprechen auf Deutsch ist man schlecht beraten, die so zu Erreichenden deutlich in der Minderzahl.
Hier und da quatsche ich mal jemanden an, das muß einfach sein.
Zum Beispiel bei km 13 – ich entdecke das erste Mal, wie die Schlange der Läufer Lücken offenbart, ein wenig aufgerissen scheint. Ich mich frage, ob und wann sich heute Gruppen bilden. 13 Kilometer in einem geschlossenen Feld, wo gibt es das?
Oder bei km 3 – ich bewege mich auf einer langen, dazu noch leicht abfallenden Geraden. Die Straße gibt den Blick auf sämtliche Läufer vor mir frei. Während ich staune ob des Eindrucks und versuche mir die Szene hinter den ganzen Autos, Motorrädern, Radfahrern, Pacemaker auszumalen, biegen die alle schon um die nächste Kurve. Ja, die Helikopter sind noch zu hören. Irgendwo da war Haile, irgendeiner von den Läufern vorne. Ich frage ein paar meiner Nachbarn. Keiner um mich herum konnte ihn ausmachen. Viele derer schauen aber auch ziemlich unentspannt stur nach vorne. Echt schade, was die so verpassen.
Es ist wirklich schön, das Wetter traumhaft, ein ganz leichter Wind kühlt angenehm. Unter blauem Himmel zeigt sich die ganze Pracht der Berliner Strecke. Wir laufen durch den Kern von Berlin, für mehr ist diese Stadt flächenmäßig viel zu groß. Sightseeing im typischen Sinne liegt mir überhaupt nicht, welches Gebäude jetzt wie heißt und welche Geschichte hat, bitte, ich lasse mich lieber hier und da vom Augenblick einfangen. Es gibt viele interessante Bilder zu sehen. Aber nicht nur einzelne Bauwerke, oder auch das Zusammenspiel – denn mir erscheint das alles ins Große skaliert in dieser Stadt- viele riesige Kästen oder verzierte Häuser. Es ist das Ambiente, schwer zu beschreiben, wie das mit dem Rest verschmilzt, das ganze Grün, Brücken, die Leute.
Au ja, die Stimmung der Leute ist überwältigend, nach jeder Kurve scheint die Zielgerade zu kommen, so ist die Anfeuerung. Kaum wo ist auf der Zielgeraden so viel los, wie hier nach der gemeinen Kurve. Jede Menge einzelne Gruppen, die sich was einfallen lassen, musizieren oder tanzen. Es scheinen lokale Sender zu sein, ich mache eine Menge übertragender Radio- und Fernsehfritzen verteilt hier und da mal aus.
Ich bin der Überzeugung, konzentriertes Laufen limitiert sich nicht durch den Grad der äußeren Ablenkung durch die Umgebung. Nein, während ich schaue und höre und auch ein stückweit mit Augen und Gesicht interagiere, ist die Laufbewegung immer noch dieselbe. Und ein Recken des Kopfes ist längst kein Winken, aber selbst das sollte nicht meßbar schlecht sein. Ich winke schon nicht. Nur in Ausnahmen.
Bloß unverkrampft bleiben, ich muß nicht beim Marathontempo verkrampfen, ich weiß das. Das es locker läuft, heißt noch lange nicht, ich strenge mich nicht genug an, oder bin zu langsam.
Bei Kilometermarke 10 und der des Halbmarathons schaue ich auf meine Uhr. Ich bin nahezu perfekt im Plan, zehn Sekunden wäre ich auf dem ersten Halbmarathon als absolute Wunschvorstellung schneller gewesen. Ich denk mir in dem Moment, vielleicht läufst du die ja auf der zweiten Hälfte raus. Aber auch egal, du bist gut drauf, lauf mal weiter.

Die ersten 25 Kilometer neigen sich dem Ende zu, schon, das ging schnell. Wie kann ich sie resumieren? Waren sie fordernd wie ein Trainingslauf mit überwältigem Erlebnischarakter? Nein. Daß ich so locker laufen konnte, war das Ergebnis einer umfangreichen, harten und auch auf diese paar Stunden zugespitzen Vorbereitung. Ok, ok, der eine oder andere Trainingslauf war gerne sehr fordernd, nur bin ich noch nie fünfundzwanzig Kilometer in diesem Tempo unterwegs gewesen. Da muß ja was dran sein, es bisher nicht gemacht zu haben.
Ich war die letzten fünfundzwanzig Kilometer so fokussiert, so in der Weiterführung der für jeden einzelnen Moment doch so machbaren Belastung gefangen. Ich sage immer gerne, ich könnte einsam eine lange Landstraßengerade entlang genauso schnell laufen, aber nunmehr im nachhinein betrachtet muß mich die Atmosphäre in Berlin das alles als viel gefälliger, viel verträglicher hat wahrnehmen lassen. Aber dadurch bin ich ja nicht plötzlich besser und leistungsfähiger, die Arbeit in meinem Körper wird von den gleichen Systemen verrichtet. Mein Geist, naja schöne Dinge scheinen immer gerne zügiger abzulaufen und vorbeizugehen, ich war dabei mit allen meinen Fühlern so tief, ja bis in den letzten Winkel meines Körpers, sensorisch vorgedrungen, trotz der Wahrnehmung meines Umfeldes so in mich gekehrt, alles Laufen war wie ein einziger eingefrorener Augenblick. Nichts hätte ich anders machen können.
Nun, meine heile Laufidylle sollte noch schon ein paar Ecken und Kanten bekommen, nur konnte ich die anfänglich noch so sicher mir selbst glaubhaft kompensieren. Man kennt das ja, es scheint nach den vergangenen Kilometern so folgerichtig einfach so weiter zu laufen. Da geht man sogar so weit und redet sich ein, dann auch noch forcieren zu können. Nur Geduld, da und dort packt man einen drauf, ist der Gedanke. Und alles während man unterdrückt, gerade schon nicht mehr so, wie anfänglich zu laufen.

Es geht auf das hinter mich Bringen der ersten dreißig Kilometer zu. Noch habe ich im Läuferfeld keinen festen Punkt, wie zum Beispiel eine Gruppe, in der ich versuche mitzulaufen, gefunden, obwohl ich doch zugeben muß, den einen oder anderen Läufer sehe ich immer wieder.
Meine Aufmerksamkeit ist bei den sich Bewegenden. Die Stehenden, eben alles was so am Straßenrand abgeht, das trägt zwar zu einer Stimmung bei, die nahezu danach schreit, an ihr zu partizipieren. Hier und dort nehme ich ein Detail wahr, eine zu überquerende Brücke, einen Musiker, ein mich anfeuerndes nettes Gesicht, aber es wischt an mir vorüber, für den Augenblick ist es, dann längst vergangen. Die Läufer um mich sind meine Begleiter.
Und gerade jetzt, wo ich zu spüren beginne, daß ich nicht mehr beliebig lange so weiterlaufen kann, taucht der erste Gedanke „ist nur noch ein Stück, deutlich weniger als eine Stunde, im Training wär es ein kleines Ründchen“ auf. Es folgt gleichfalls, keine Stunde würde ich so weiterlaufen können, bin folglich mit meinen Kräften beinahe auch am Ende.
Aber klar, als ich km 32 passiere, ich laufe gerade durch ein regelrechtes Stimmungsnest mit eigener Lautsprecherstimme, werden die Zuschauer gerade durch den akkustisch durchdringend verstärkten Moderator in Euphorie und Ehrfurcht, in Stolz bei etwas ganz Großem dabei zu sein, versetzt.
Ich bekomme es auch mit; der alte Hund, verdammt nochmal, Weltrekord, unter 2:04. Kurz quatsche ich einen Mitläufer an, der will nur grad seine Ruhe haben, aber ich fühle mich bewegt, euphorisiert, freue mich für Haile, den schnellsten Mann den der Marathon je gesehen hat, und ein ganz netter noch dazu. Ich muß das teilen. Zehn Kilometer, denke ich hier, zehn Kilometer hat er mir abgenommen. Genau das geistert mir noch durch den Kopf, als ich bei den nächsten Kilometern merke, jeweils mit Blick auf meine Uhr, schneller geworden zu sein. Zwei Sekunden pro Kilometer schneller, es kommt mir viel vor. Aber es ist nicht mehr weit. Es sind noch genau die zehn Kilometer für mich.
Ich phantasiere, das Tempo bis ins Ziel zu halten, von nun an einfach nach und nach ganz seicht zu beschleunigen. Klar die zweite Hälfte eine halbe Minute schneller als die erste, das wär schon geil. Es fluppt, keine zehn Kilometer, oh, super.
Ich bleibe dann zwar doch nach anfänglicher Steigerung bei meinem Tempo, beschleunige nicht weiter. Ein kleines Stückchen mehr, und ich bin am Limit. Meine Erfahrung sagt mir das, mein Körpergefühl wart mich, diese Regulation ist in Fleisch und Blut übergegangen, arbeitet auf einer niedrigen Ebene, nein, dem gegenüber ist selbst meine Euphorie machtlos.
Zwei Sekunden pro Kilometer, die ich durch Haile initiiert schneller wurde, sind jetzt nicht viel, es reicht jedoch für einen sichtbaren Tempoüberschuß zu den meisten meiner Mitläufer. Als wären es mehr als diese zwei Sekunden, schiebe ich mich vorwärts. Wenn es so weiterläuft, bin ich bald im Ziel. Ich flehe nicht innerlich, das Ziel soll bloß nicht mehr so weit weg sein – man kennt das ja, runterzählen und so –, nein, ich strenge mich richtig an, es rentiert sich, die Sekunden purzeln. Ich sehe nicht die Zeit, die sich sammelt und sammelt, mit jedem Kilometer werde ich kürzer brauchen, als ich bisher auf Kurs war. Es ist wie ein inneres kämpferisches Juhuu. Wie rasch kann das umschlagen?
Eine Tücke des Marathons, sich bis zu dem Augenblick, wo man registriert, es geht schon nicht mehr, sicher zu sein, das Umschlagen ein Ding der Unmöglichkeit. Klar die Erfahrung vieler Marathons hat es kaum nachhaltig verdrängbar real werden lassen. Das Wissen ist da, die Kenntnis. Aber so im Rennen? Ach, man freut sich einfach, man kämpft ja schon genug. Soll eben kommen, was möchte, wird schon gut gehen.
Und es kommt. Dabei verhandle ich mit mir, was gut und was weniger gut ist. Einen sehr bezeichnenden Moment habe ich – das mag so bei knapp km 38 sein:
Mein Juhuu liegt hinter mir, ich bin nun froh, in jedem Augenblick mein Tempo noch irgendwie aufrecht erhalten zu können. Schwer nun das, einladend, sich den Schmerz erträglicher zu machen und das Tempo schleifen zu lassen. Der Blick auf die Uhr, ich rechnete herum, ich weiß noch, es geht über eine Brücke, nach dem kleinen Stückchen bergan reißt es an einem. Zu Anfang des Rennens, mit verkürztem Schritt, erhöhter Frequenz, hinauf getippt, kein Problem. Aber nun bin ich abhängig von meinem Rhythmus, leicht geht es nicht über die wirklich winzige Erhebung. Aber die Versuchung: Meiner Schätzung nach bin ich fast wie zu Hause. Nur noch ein Vierminutentempo für die restlichen paar Minuten. Das kann ich ja wohl noch laufen. Die sub 2:40, ich hab sie.
Ist ja nett, daß ich mich der Zeit so sicher wähnte, aber ein Vierminutentempo sozusagen als Netz und doppelten Boden anzusehen, ist ganz schön anmaßend, weiß noch letztes Jahr im September in Bertlich, da war das alles was ich an dem Tag drauf hatte. „Wenn du langsamer wirst dann nur noch 4 min/km...“ – bekloppt.
Ich bleibe aber fast bei meinem Tempo, verliere im Vergleich zu meinem Fünfkilometerdurchschnitt zehn Sekunden auf dem Abschnitt 35-40. Ich merke das, ich bekomme die Beine nicht mehr ganz so hoch, alles irgendwie schwerer, schwerfällig und unkoordiniert. Aber soll es doch sein, ein Niedergang der eigenen Kräfte, ich hätte etwas falsch gemacht, wäre danach noch etwas in mir. Dennoch muß ich mich diesem Niedergang entgegenstellen, schaffe ich es, meinen Gliedmaßen schier unbeirrt bis ins Ziel arbeiten zu lassen, ist alles perfekt.

Es geht nicht besser. Es tut weh, ich reiße mich zusammen. Nichts wird aufgespart. Dennoch reißt mich jede Abwendung vom Geradeauslaufen auf glattem Grund aus meinem Tempo. Ich verliere Zeit, ich will das nicht. Möchte nun gerne im Ziel sein. Weiß nicht, nehme ich das gerne hin, daß ich genau jetzt die Chance habe, daß genau jetzt mein Einsatz ist, das Endergebnis zu machen. Jede vertane Sekunde ist weg. Sinnlos sie auf Reserve zu halten, was bringt es mir, wenn ich im Ziel noch was kann. Alles muß raus. Verzweiflung. Es geht nicht wie mir scheint.
Aber so langsam bin ich gar nicht, wäre nur gerne schneller, würde die letzten zwei Kilometer gerne so rennen, als wäre ich irgendwo, z.B. an unserer Remscheider Talsperre, laufe eine schnelle Runde, wäre auf den letzen zwei der dortigen drei Kilometer, wäre richt schnell und würde bis zum Punkt (oder virtuellem Strich) spurten.
Ja und hier, die Zielgerade ist so lang, etwa 1.5 Kilometer, aus großer Entfernung sieht man bereits das Brandenburger Tor. Imposant. Eigentlich sollte ich Gänsehaut bekommen. Sollte fixiert auf das Erreichen sein. Ich verhandle. Dort ist ja gar nicht das Ziel. Ja das ist ein Stück weiter. Sehr weit. Keine Ahnung.
Aber es zieht nicht an mir, ich sehe nicht den Bogen auf dem steht: Ziel, der Punkt wo es nicht mehr weiter geht. Ich sehe das Tor, da geht es durch. Mist, muß mir wieder die Nummer richten, abfallen soll die jetzt nicht, hängt indes nur noch an deinem Zipfel. Fragil. Genau, wie ich mich mit meinem Tempo fühle.
Vor mir die Handvoll Läufer, sie läuft mir langsam weg. Ich müßte nur wenig schneller, dann wäre ich dort wo sie sind, aber ich bin dahinter. Verloren. Ich laufe und laufe. Das Getöse der Zuschauer, verschwommen nehme ich es wahr. Muß mit mir kämpfen, um den Zustand zu halten. Plötzlich höre ich meinen Namen gerufen, Blick in die Richtung des Ursprungs, drehe meinen Kopf. Bekanntes Gesicht, Stefan Grothe vom Laufsport Bunert in Wuppertal. Cool, was macht der hier, kurz reißt es ich aus meinem Schmerz, recke Stefan einen nach oben gerichteten Daumen entgegen, zeige im die Zähne. Irgendwas kurzes sage ich noch. Jaa. Weiter. Er ist weg. Schreck. Komm jetzt Ziel!
Als ich unter dem Brandenburger Tor durchlaufe, verunsichert der Untergrund, mal wieder Kopfsteine, lähmt meinen Schritt. Ich arbeite mit ganzem Körper. Au weia: Und nun Treppenstufe! Als müßte ich von einer Mauer springen. Vorsichtig, treffe ich unten auf. Uhh, bin ich wackelig.
Das Ziel, das Ziel, das Ziel. Ein Bogen, zwei Bögen, drei Bögen, alles nebeneinander. So viel Platz, nur die paar Läufer vor mir, ein paar versprengte dazu. Ich will schneller, ich will ins Ziel. Wohin? links, mitte, rechts? Hauptsache vorwärts. Vor mir schwenken sie nach links. Hinterher. Der Abstand ist zu groß. Will da hin. Die Zeit. Verdammt, die Zeit, sehe im Zielbogen vor mir die Uhr. Sie schlägt um von 2:37 auf 2:38. So weit ist es noch. Obwohl, es sieht gar nicht so weit aus, aber ich komme langsamer vorwärts, als die Sekunden über 2:38 verrinnen. Ein bißchen Guthaben zu meiner Nettozeit habe ich ja, etwas über zehn Sekunden. Die sind bald rum. Aber die Enttäuschung, schlägt nicht um in ein Aufbäumen, ich fühle mich gebrochen, sie schlägt um in eine Zufriedenheit, daß ich ja eigentlich fast im Ziel bin. Ich das das nicht, zu Ende ist es wenn es zu Ende ist, nicht vorher. Ich trudle nicht aus, aber ich spurte nicht wild zappeln ins Ziel. Nur rein. Über die Matte und die Anspannung fällt von mir ab. War das anstrengend. Frage mich trotzdem sehr schnell, hätte ich nicht noch ein Bißchen was gekonnt. Blicke auf die Uhr an meinem Handgelenk, meine nebenher, blind gestoppt Zeit. Wohl doch knapper, als ich dachte. Mist, verdammter.
Aber nur kurz ist es Mist, dann eröffnet sich mir, was ich eben getan habe.
Was ist denn wichtiger? Für sich selbst zu wissen, eine bestimmte Zeit laufen zu können, oder wenn man meint es zu wissen, es zu tun?

Ich hatte dieses Jahr schon einige Tage, nach denen mir rückblickend klar war, ja du hättest es drauf gehabt, oder vielleicht in dir gehabt. Letzten Herbst erschien es noch wie eine fixe Idee, eine Zeit unter 2:40 zu laufen, es erschien nicht fern, aber doch unerreichbar, das Marathontempo zu schnell.
Aus dem Wintertraining war es plötzlich da, mein Training war schon früh sehr marathonspezifisch, noch bevor ich in der konkreten Vorbereitung des Frühjahrsmarathons war. Ich war eigentlich noch in der Findungsphase, was denn so eine mögliche Marathonzeit werden können sollte.
Ich habe etwas sehr mit dem Holzhammer abgeklopft, die Achillessehne war von Anfang Februar an erstmal hin. Die Marathonform dann bald auch. Aber nicht – die Verletzung war ganz frisch – ohne noch einmal, und zudem ersten Mal, einen der oben angesprochenen Tage zu bescheren. Anstatt des Halbmarathons in Porz hätte ich das gepackt, eine 2:39 oder so, das hat mich in meiner Verletzungsphase einerseits beruhigt, andererseits auch wieder aufgeregt.
Naja, was ist wichtiger? Jetzt, wo die letzten Wochen vor Berlin wieder so richtig reinkam, schien mir das Wissen wichtiger. Wissen bedeutet jetzt ja nicht, sich zu sagen, ich bin ein Soundso-Läufer, sondern man spürt beim Laufen, bestimmte Leistungen abrufen zu können, die einfach so irre sind, daß man selbst noch nicht so richtig begreift, daß es funktioniert. Aber man spürt es und ist überzeugt.
Klar, es war ein Wagnis, eine gewisse Unsicherheit, hier in Berlin mit dem Tempo auf die Strecke zu gehen. Ich war im Vorfeld ehrlich und trotz nicht darauf hindeutender Unterdistanzleistungen habe ich von den 2:38:00 gesprochen. Wollte das laufen, was ich meinte zu können, das Abhaken der 2:40 zweites Ziel. Im perfekten Fall 1:18:45 + 1:18:45, aber realistisch war die halbe Minute langsamer sicher.
Schon irgendwie ulkig, den letzen flachen Marathon mit geglückter Vorbereitung und dabei auch deutlichem Sprung in der Bestzeit – Bonn 2007 – anstelle des geplanten 3:54er Tempos also 2:44:33 zwei Sekunden gesamt zu schnell gewesen zu sein. Nun bin ich wieder im Lot, mit zwei Sekunden über 2.38.
Aber was soll ich sagen? Daß es einfach ein geiles Gefühl ist, ausnutzen zu können, eine ganz konkrete und dabei sehr dicht am überhaupt durch die Schnelligkeit auf kürzeren Strecken gegebenen möglichen Marathonzeit laufen zu können, und es dann einfach zu tun.
Nicht einfach, weil es locker leicht geht, sondern weil es geht. Und genau das habe ich die letzen Stunden getan.
Die Stimmung hier? Ich werde nach knapp zwei Stunden ein zweites Mal, diesmal aus der Perspektive des Zuschauers in den Zielbereich vordringen und dort Fotos machen. Ganz schön viele Leute, was ein Getöse. Aber jetzt bekam ich davon nicht viel mit und bekomme es nicht. Meine Mitläufer von gerade sehe ich, die Helfer des Ziels mit Medaille, Folie und Verpflegung. Sonst bin ich allein. Wird die Mehrzahl der Zuschauer mit der Masse der Läufer noch kommen? Beim Schreiben dieser Zeilen kann ich das nicht sagen.
Hier und da, man klatscht sich ab, ich sehe welche, die sich irgendwo aufstützen, gehen in kurzen Schritten unrund umher. Zusammengekniffene Augen gefolgt von einem Lächeln. Ein Läufer fällt mir um den Hals, ein Franzose von vom Club „Ja Malesse“ umarmt mich mit den Worten, er hätte sich die letzen sieben Kilometer an mich geheftet, ich hätte ihm so wunderbar und gleichmäßig Tempo gemacht. Ich freue mich.
Möglicherweise übersehe ich mit den Zuschauern auch die enttäuschten Gesichter.


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