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Bericht

Name des Laufes:45. RWE Marathon Rund um den Baldeneysee
mehr zum Lauf: VID5254
Datum des Laufes:14.10.2007 (Sun)
Ort:Essen
Plz:D4
Homepage:http://www.essen-marathon.de/
Strecken:MA
Beschaffenheit:Asphalt, gut
Profil:flach
Wetter:Sonnenschein bei 10-17°C
Teilnehmer:1555
Name des Berichtenden: redcap LID4543
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Bericht vom 23.10.2007 (Tue)
14.10.2007: 45. Marathon Rund um den Baldeneysee. Start um zehn Uhr. Ich, dabei und bestrebt auf dem herrlichen, schnellen Essener Kurs Bestzeit zu laufen. Auf die Frage hin, was ich denn laufen wolle, hatte ich im Vorfeld den Fragestellern mit sub2h42' geantwortet. Insgeheim fühlte ich beim Lauftraining, daß es mal wieder Zeit sei, etwas Neues auszuprobieren. Deshalb hatte ich mein wettkämpferischen Herbstaugenmerk auch weg vom zwei Wochen später stattfindenden Röntgenlauf mit seinem Landschaftslaufcharakter, hin zu dieser regelrechten Laborstrecke gerichtet. Ich hatte Bock, richtig schnell zu laufen. Mein läuferisches Zeit für 2007 den Marathon in einem Tempo schneller als vier Minuten pro Kilometer zu absolvieren, hatte ich schon im April mit 3:54/km deutlich erreicht. Jetzt war ich neugierig. Wie würde es sich anfühlen, mal die 2h40' in Reichweite zu haben. 3:47.5/km bedeutete dies. Das wollte ich versuchen anzulaufen und zu halten, solange es ginge, bestenfalls zweiundvierzig Kilometer weit.

Morgens, strich um sieben Uhr machte ich mich auf den Weg Richtung Norden. Fahrtzeit, gerade Sonntags Früh, kaum eine Seele unterwegs, keine vierzig Minuten.
Ich war also sehr zeitig da. Aber was soll ich zuhause rumsitzen? Ich steh eh etwas über vier Stunden vor solch einem Wettkampf auf, und sei es nur, um schon vier Stunden vorher zu frühstücken. Wenn mein Magen nicht leer ist, dann mag ich das beim Laufen überhaupt nicht.

So ein frühes Erscheinen hat bei jedem nicht winzigen Lauf den Vorteil der deutlich besseren Parkmöglichkeiten. Hier in Essen besteht der Vorteil der perfekten Parkmöglichkeit. Diese habe ich zwar nicht rigoros genutzt und habe mich nicht fünf, sondern etwas zwanzig Meter vor der Startlinie entfernt abgestellt. Ist aber auch ok. Ich liebe diesen Marathon. Ich hatte bis nahezu unmittelbar vor Startschuß die Möglichkeit an meine Sachen zu kommen, konnte möglichst lange dick eingepackt bleiben, kam an meine Trinkflasche. Daß ich nicht super nahe am ein Stückweit entfernten Ziel parkte, war mir egal. Was zählt schon nach dem Lauf? Außerdem; der knappe Kilometer war dann auch zumutbar.

Zwei Stunden, zwanzig Minuten. Ich wollte mich gerade auf den Weg ins Warme und zu den Umkleiden machen, da parkte neben mir ein Golf mit Bonner Kennzeichen. Der Fahrer, ein älterer Herr, stieg aus, schaute mich an, schaute nochmal genauer. Dann offenbarte er mir, daß ihm mein Gesicht bekannt vorkäme. Ich stutzte. Ob ich nicht Christian Thiel, redcap aus dem Streakrunning-Forum sei. Und schon lernte ich ein Urgestein der deutschen Marathon und Ultralandschaft persönlich kennen: Volker Berka, auch bekannt unter dem Synonym FranksVater, seit vier Jahrzehnten läuferisch unterwegs, heute vielen ein Begriff als unermüdlicher Autor diverser Laufberichte für den 100-Marathonclub, für Marathon4you, für streakrunning.de, etc. Seine Berichte zeichnen sich erstens dadurch aus, auch auf die Reize der Umgebung, den touristischen Mehrwert einen Marathonausfluges, einzugehen und zweitens dadurch regelmäßig und von nahezu Überall aus Deutschland und Umgebung zu kommen. Volker lief heute seinen 322. Marathon/Ultra.
Ich habe mich nach dem Lauf mit ihm noch ausführlicher unterhalten. Immer wieder schön, solche Menschen treffen zu dürfen.

Aber zurück zu T minus zwei Stunden und fünfzehn Minuten.
Es war noch so schön dämmerig. Einsam und still. Der große Startbogen stellte ein eindringliches Zeichen dar, diese Ruhe würde nicht mehr allzu lange währen. Ja, in 2h sollte hier alles gerammelt voll sein.
Auf dem Weg zu den Umkleiden begegnete ich kaum einer Menschenseele. Was muß es hier schön sein, bei schlechtestem Wett zu den unlaufbarsten Zeiten einen langen Lauf zu machen. Vormerken.

Im Regattahaus angekommen hatte ich die Auswahl zwischen zwei Umkleiden. In der einen stank es ekelhaft, in der anderen scheußlich. Ich wählte die Zweite. Der Geruch des Erfolges.
Viel los war auch hier noch nicht.
Ich verweilte bis etwa 40 Minuten vor Startschuß und erlebte wie mehr Leute kamen als gingen, wie unterschiedliche das Treiben war, wie unterschiedlich sich die aufkeimende Nervosität eröffnete.
Natürlich schneite auch noch Michael Claesges herein und wir plauschten kurz. Er hatte sieben Tage vorher in Köln die 63km Kombinationswertung des HM plus Marathons hinter einem Streckenkenner bzw. extremen Tempowechselläufer "gewonnen" und wollte nochmal vorsichtig laufen, meinte aber, er könne dies nie, unterm Strich gebe er dann doch immer sein Bestes.
Ja, Michael habe ich in den letzen Monaten schon ein paarmal getroffen: Siebengebirgsmarathon, Leverkusen HM, Willingen Marathon, Monschau Marathon. Nachdem er mich im Siebengebirge, und Leverkusen und in Willingen schlug, belegte ich in Monschau genau einen Platz vor ihm. Es sollte eine Prüfung werden, er lief schlußendlich am heutigen Tag eine 2h50'.

Neun Uhr war inzwischen längst verstrichen, es wurde Zeit, mich umzuziehen. Ich wollte so lange wie möglich warten, um nicht unnötig auszukühlen. Bis zum Startschuß würde es etwa zehn Grad haben: Kurze Hose, gerade über die Knöchel reichende dünne Socken, Singlet. Das und meine inzwischen liebgewonnen roten Supernova light sollten heute zum Laufen reichen.
Da mir aber außer beim Laufen nicht dick eingepackt eigentlich immer kalt ist, packte ich mich noch dick ein, zog eine lange Hose und obenherum mehrere Schichten drüber plus Mütze auf den Kopf. Womöglich noch auskühlen, so kurz vor Start? Nicht mit mir!
Auf dem Fußmarsch zum baldigen Ort des Geschehens begegnete ich ein wenig befremdet, ein wenig mitleidend, auch ein wenig amüsiert ein paar Optimisten, die mit von Kälte starren Gliedern "halbnackt" zum Start staksten.
Dort angekommen, war es nun deutlich voller, aus den inzwischen in Stellung gebrachten Lautsprechern ertönte Getöse. Ein letztes Mal wollte ich noch erleichtern und stellte mich an eine fies lange Schlange für ein freies Dixie-Häuschen an.
Die Sinnlosigkeit und Zeitverschwendung wurde klar als ich saß. Ich mußte gar nicht. Nun gut, ich war inzwischen ausreichend aufgeregt.
Eine viertel Stunde noch. Einlaufen? Nein, lieber schieße ich noch schnell eine Handvoll Bilder. Konnte ich ja, Auto war ja nebendran. Danach lange Hose aus und warmlaufen. Immer fein ein paar Mal die Startgerade hoch und runter, die Stimmung aufnehmen, schauen, wer so alles rauf und runter läuft. Ich merkte, so richtig viele waren es gar nicht, trotzdem ein wuseliges Treiben. Meine letzten beiden Marathons hatten jeweils etwa fünfzig Teilnehmer, dies hier war ganz was anderes. Herrlich.
Vielleicht zwei, drei Minütchen vor Startschuß genoß ich nochmal meinen persönlichen Parkplatzluxus und streife schlußendlich die ganzen wärmenden Schichten ab. Nun konnte es losgehen. Ich war bereit und begab mich zur Startlinie.
Ja, da standen sie alle. So richtig dran war ich, konnte erleben, wie der eine sich aufmachen würde, um unter 2h15' zu laufen und der andere ein für mein Befinden nicht zu greifende, ja fast perverse Zeit von 2h26'xx" anstrebte. Ich hatte mich am Vortag noch mit Andreas Menz von Laufsport Bunert Wuppertal und einer der heutigen Moderatoren unterhalten. Uns war sonnenklar, der eine würde würde seine Zeit erreichen. Das mußte er einfach, bei der aktuellen Form. Und wir sollten uns nicht geirrt haben, einer von beiden erreichte sein Vorhaben...
Ich für mich wußte, würde ich in etwa mein avisiertes Tempo laufen, wäre ich mitten im Rennen so zwischen Position Zehn und Fünfzehn platziert. Ich wollte mich dennoch nicht in die erste Reihe stellen, das kam mir anmaßend vor, stellte mich lieber hinter einen, der mir nach dem Startschuß definitiv nicht im Weg stünde.
Plötzlich war es nicht mehr lang hin, die letzten 10 Sekunden wurden heruntergezählt. Dann knallt’s - Startschuß.

Oh was soll das, warum laufen die alle so langsam los, denke ich mir die ersten 200 Meter. Danach denke ich mir, warum laufen die alle so schnell. Nein, ich laufe vorsichtig. Ja, das ist mein Tempo, sollen sie doch laufen, wie sie wollen. Eine Gruppe brauche ich nicht, ich weiß, wie man alleine Tempo hält.
Ich sehe, wie sich um die spätere Siegerin Romy Spitzmüller und die baldige Zweite Ilona Pfeifer eine gewaltige Gruppe formiert. Verdammt, bin ich weit hinten platziert. Um mich herum einige, die wild hechelnd versuchen, möglichst diese Gruppe nicht zu verlieren.
Das erste km-Schild passiere ich bei 3:42 - immer noch zu schnell, aber die Gruppe muß mal 3:38 drauf haben. Wahnsinn. Irgendwie kann ich mich nicht von der Gruppe losreißen, hänge hinten im Sog, der nächste Kilometer mit 3:39 bestätigt dies. Aber nun lasse ich mich fast augenblicklich zurückfallen. Nein, das muß nicht sein. Ich komme mir zwar abgehängt, langsam, irgendwie außerhalb des Renngeschehens vor, aber dafür liegt die 18'50" für fünf Kilometer im Soll, ich bin sieben Sekunden zu schnell, aber noch im Rahmen.

An diesem Tag bin ich Zeuge des Frauenrennens, schlußendlich werde ich zwei Minuten vor der Zweitplatzierten durch das Ziel laufen.
Ist es nun die Möglichkeit einer Gruppe an sich, oder die Chance am heutigen richtigen Renngeschehen, also bei den Siegern dabei zu sein. Auf den ersten km frage ich mich wirklich, warum so viele versuchen dabeizubleiben. Ich hatte mir ja ausgerechnet, wo ich nach der Hälfte so platziert sein müsse. Aber so? Irgendwas stimmt hier nicht. Nur die Ruhe bewahren.
Ich sehe auch, wie recht bald Ilona aus der Gruppe um Romy rausfällt und ein eigenes kleines Grüppchen bildet. Hat sich Ilona übernommen, oder forciert Romy? Ich kann das gar nicht so genau sagen, ich sehe bloß die Frauenspitzengruppe nach und nach aus meinem Sichtfeld verschwinden, die Verfolgerin aber wie einen Fixpunkt vor mir herlaufen.
Ilonas Gruppe zerfällt so schnell, wie sie entstand. Die einen merken wohl, daß sie gerade von der Spitzenreiterin abgehängt werden, versuchen wieder nach vorne zu kommen und sprengen die Gruppe, die anderen zollen dem Starttempo noch mehr als sie Tribut und fallen stärker zurück. Ilona läuft ganz alleine. Es kommt mir ziemlich undankbar und unangemessen vor für die Zweitplatzierte, die amtierende deutsche Marathonmeisterin. Nein, das hat sie nicht verdient. Auf der anderen Seite, was läuft sie so irre schnell an, etwas früh, um so deutlich langsamer zu werden.
Die nächsten sieben Kilometer versuche ich mich bewußt davon abzubringen, mit Gewalt zu ihr aufzulaufen, dennoch bildet sie eindeutig eine Orientierung. Kaum merklich hole ich immer mehr auf, ihr Vorsprung schrumpft. Ich denke, prima, die will bestimmt eine ähnliche Endzeit wie ich laufen, da laufe ich einfach ran und lasse mich nicht wieder abhängen. Da kann man doch ne Gruppe bilden. Schön mit gleichmäßigem Tempo, das macht die Sache doch einfacher.
Nur hole ich die versprengten Läufer und auch Ilona nicht deshalb ein, weil ich schneller werde, nein, die werden alle langsamer. Das mit der Gruppe kann ich wohl vergessen. Zwar ist mein Durchschnittstempo auch eine Winzigkeit gefallen, das liegt aber eher an den ersten beiden schnellen Kilometern.
Für ein mich extrem beeindruckendes Schauspiel reicht es dennoch. So ein magischer Moment, wie man ihn als Marathonläufer wohl nur einmal erlebt.
Es ist eine Kleinigkeit, ich kenne ja meine geplanten Zwischenzeiten. Aber trotzdem. Bei Kilometer Zehn steht eine große offizielle, die Wettkampfzeit anzeigende Digitaluhr. Das Bild ist mir fast schon unheimlich. Am liebsten hätte ich eine Kamera dabei. Ja, eine Kamera, um ein Bild machen zu können, um mir diesen Augenblick festhalten zu können, so richtig begreifen kann ich es nicht:
Ich laufe über die Markierungslinie und die Uhr zeigt 37'50". Sowas ist doch eher eine 10km-Zeit, und zwar keine schlechte. Aber doch nicht ein Durchgang im Marathon. Der Wahnsinn. In diesem Augenblick wird mir erst richtig klar, was mein Vorhaben bedeutet für unter 2h40' anzulaufen, was das für ein horrendes Tempo ist. Vorher habe ich das immer nur in Minuten pro Kilometer gesehen, oder als sieben Sekunden pro Kilometer, die ich im Vergleich zu meiner Bestzeit schneller laufen muß. Das kam mir gar nicht so extrem vor. Aber 37'50"! Hui.
Dabei kommt mir mein Schritt schön gleichmäßig vor. Genug Körperspannung, eine ausreichende Schrittlänge. Alles im Lot, genau so ist mein Marathonschritt.
Ich spüre aber trotzdem, daß es nicht so läuft, wie es perfekt laufen sollte. Ich fühle mich einfach ein wenig zu angestrengt. Beileibe nicht viel, aber ich habe inzwischen ein sehr ausgeprägtes Feingefühl, was so geht auf Zweiundvierzig Kilometern. Da ich diese inzwischen auf einem ziemlich hohen relativen Belastugnsniveau durchlaufen kann, ist da eben kaum Spielraum nach oben.
Nur habe ich mir schon im Vorfeld vorgenommen, das Risiko einzugehen, mich schon auf der ersten Hälfte zu sehr zu verausgaben und hintenraus zu platzen.
Viel wichtiger ist es mir, einen Eindruck zu bekommen, wie es sich anfühlt, wie das so ist einen Marathon auf sub2h40' anzulaufen. Und wenn mir mein Gefühl sagt, so intensiv bist du noch nicht durchgekommen, ist es eben Zeit für das erste Mal.
Und wenn gar nichts mehr geht, so habe ich mir vorgenommen, dann steig ich nach der ersten Runde und vierundzwanzig Kilometern eben aus. Ich habe dieses Jahr schon viel mehr als erwartet erreicht im Marathon. Wenn ich noch einen draufsetzen möchte, dann aber richtig.
Kurz vor dem Abzweig, wo es auf der ersten Runde nach zwölf Kilometern auf den langen Weg zum Wendepunkt geht, überhole ich die einsam kämpfende Ilona. Kämpfen ist ein guter Ausdruck, am liebsten würde ich ihr sagen, Mensch häng dich dran, das Laufen wir jetzt ganz gleichmäßig zu Ende. Aber sei wirkt beileibe nicht so, als wolle sie irgendein höheres Tempo, als das vor ihr gerade gelaufene aufnehmen. Bis zur Halbmarathonmarke wird sie noch eineinhalb Minuten hinter mich fallen. Schade, fühle ich mich noch euphorisch, etwas abzugeben.
Leider ändert sich das ziemlich schlagartig: Auf den etwa zwei bis drei Kilometern zum Wendepunkt geht es ganz leicht bergan, zudem ist es eine breite und damit nicht sonnengeschützte Straße. Das in der Summe ist genau die Winzigkeit, die bei mir gefehlt hat, um aus einem wahrscheinlich etwas zu schnellen Tempo ein definitiv etwas zu schnelles Tempo zu machen. Die Zeiten nach dem Wendepunkt werden fürs Erste ein wenig durch das Gefälle frisiert, so laufe ich den vierten 5km-Abschnitt auch nur ein bißchen langsamer als den dritten. Aber ich merke nach fünfzehn Kilometern schon sehr deutlich, daß ich platt bin, zu platt, um in einem Rutsch über die zweiundvierzig Kilometer zu kommen.
Aber genau dafür hatte ich mir als Ziel die 2h42' gesteckt. Irgendwo um 1h20' für den ersten Halbmarathon, um auf dem zweiten im Normalfall zwar zu verlieren, aber manierlich. Zwei Minuten - eigentlich eine Menge Holz.
Meine Aufgabe ist nun die erste Hälfte abzuschließen, dann weiterzuschauen. Meine Kilometer liegen alle so bei 3:50, die 1h20' werde ich nicht knacken. Hätte mich zwar riesig gefreut, gerade im Rahmen eines Marathons, und dazu noch eines so schönen, das erste Mal diese Schallmauer zu durchbrechen.
1h20'33" - klingt immer noch genial, bin ich noch nie gelaufen. Zwei Minuten? Nö, eine bleibt mir zum langsamer werden! Oh, ob mir das gelingen kann? 1h21'37" ist schon ziemlich fix, da darf ich kaum langsamer als 3:50/km werden. Schon rechne ich weiter. Ein Ziel verloren? Hach, dann halt das Nächste. Da läßt sich doch was finden. 2h42'xx" klingt ja fast wie sub2h42', mach ich doch das. Eine ganze Minute mehr Puffer sind fast dreißig Sekunden auf zehn Kilometer, das kling doch beruhigend. Also, nicht weiter nachdenken, weiterlaufen, einfach nur annehmbar zügig weiterlaufen, das wird schon gehen. Ich bin jetzt so viele Marathons gelaufen, die letzen alle schön konstant, auch konstant trotz Ermüdung und Schmerzen durch die Belastung, warum sollte ich so viel einbrechen? Die erste Stufe des Einbruchs habe ich dennoch eingeleitet. Aus dem Tempo knapp unter bis glatt 3:50 ist ein gleichmäßiges 3:54 - genau mein Tempo aus Bonn au dem Frühjahr - geworden. Das ist aber prima, im Frühjahr lief ich zweimal um 1h22'15", das würde ja genau reichen. Ich schöpfe ein wenig Mut. Wäre da nur nicht das Gefühl, als wäre mir dieses Tempo auch nicht unbegrenzt erträglich. Und beim Marathon sollte es sich doch bis Kilometer fünfunddreißig so anfühlen. Aber bei meinem letzen zügigen Marathon in Bertlich vor sechs Wochen war das auch nicht der Fall und ging trotzdem bis zum Ende gut, versuche ich mir die Zweifel auszureden.
Also weiterlaufen, einfach nur weiterlaufen. Denken brauchst du gar nicht, nur laufen.
Das tue ich. Nach und nach wird es lauter. Ich passiere das Start-Ziel-Gelände. Eine Menge Zuschauer feuern die Läufer, so auch mich, an. Darunter auch einer, der bis vor irgendwas um acht Minuten ganze vierundzwanzig Kilometer im 3:30er Tempo gelaufen ist. Ich denke mir, Wahnsinn sieht der noch frisch aus, wo ich so hinüber bin. Der ist fertig und ich muß noch eine Runde. Na, super. Er ruft mir noch irgendwas, wie ich sehe noch gut aus oder so entgegen. Klar doch! Aber nett gemeint. Ich will von ihm noch wissen, ob er seinen Schützling genau auf Kurs gebracht hat, da bin ich schon ohne die Antwort verstehen zu können vorbei. Die Zuschauer bleiben hinter mir, es wird wieder still.
Ein nicht fortzuwischender Gedanke manifestiert sich. Nicht so ein rosa bebrilltes Motivationsetwas. Ganz im Gegenteil, grau und fies und betrügerisch unfair. Irgendwie habe ich die Hälfte geschafft. Eine Runde habe ich, eine muß ich noch. Versuche ich realistisch zu sein und sage mir, Mumpitz, du brauchst nur noch siebzehn Kilometer, nicht die Hälfte, wird mir klar: Siebzehn Kilometer! Verdammt, das ist weit, ich kann nicht mehr.
Kann man nicht mehr und es sind noch, sagen wir sieben Kilometer, so kann das richtig wehtun, so sehr, daß man trotz allem ne Menge Zeit verliert. Aber siebzehn Kilometer! Das ist nichts, was man sich mal eben so als halbes Stündchen schönreden könnte.
Es könnten genauso gut auch dreißig Kilometer sein. Das würde auch nicht wirklich einen Unterschied machen. Dann müßte ich auch noch auf erstmal nicht absehbare Zeit weiterlaufen.
Jawoll, ich bin mitten im Niemandsland! Und ich kann wirklich nicht mehr. Im Vorfeld hatte ich mir vorgenommen, genau in diesem Fall auszusteigen. Aber nein! Ich bin doch nicht bescheuert!
Ich mache mir deutlich, auch wenn es noch unsäglich viele Minuten sind, mit jeder gelaufenen Minute bin ich eine Minute näher am Ziel. Die letzte Minute habe ich durchgehalten, da wird die nächste auch gehen. Ich laufe ja gerade. Nein, daran wird sich nichts ändern. Ich laufe.
Die nächste Ebene auf meinem Abstieg, ein erträgliches Tempo zu finden, habe ich bei vier Minuten pro Kilometer. Ja, warum eigentlich nicht? Das klingt doch schön rund. Dort würde ich zwar eine 1h24'24" für den Halbmarathon laufen, aber das ist mir schnuppe. Genau: Von Kilometer zu Kilometer immer vier Minuten. Vielleicht fange ich mich ja. Sofort kommt die Gier und ich sage mir, wenn ich dann wieder raus bis aus der Überlastung des zu hohen Tempos, dann kann ich die letzen Kilometer wieder forcieren. Genau - Blut in den Beinen und nicht im Kopf! Bei meinem ständigen Langsamerwerden gleich noch beschleunigen, im Nachhinein betrachtet, so ein Unsinn.
Aber das Rennen geht unaufhörlich weiter. Es geht ein letztes Mal durch Essen Werden, abseits des Sees, durch ein richtiges Stimmungsnest. Und ich werde überholt. Nicht von einem Läufer, nein gleich ein ganzes Grüppchen - vier, fünf Personen. Dranbleiben kann ich nicht. So viele auf einmal hinterlassen bei mir den Eindruck, ich bin nun total weit hinten. Nein, wirklich, so kommt es mir vor, da läuft man eine Ewigkeit ziemlich alleine, hat zwei, drei Handvoll Läufer vor sich, und dann kommt eine ganze Handvoll auf einmal an einem vorbei!

Aber so ganz alleine bin ich die nächsten Kilometer nicht. Bald soll ich eingestimmt werden auf den kommenden Röntgenlauf, wo ich letztes Jahr mal für mehrere Kilometer auf denen ich ansonsten ganz alleine lief, gleich drei Radbegleiter hatte. Die unterhielten sich zu allem Überfluß noch. Und wenn das nicht genug wäre, war das Thema, wie sauschwierig der Rest der Strecke noch würde.
Ja, die Radbegleiter. Nicht meine Freunde. Und wenn wie hier in Essen es noch die persönliche nur auf einen Läufer wirklich Rücksicht nehmende Begleitung ist, dann macht das besonders Freude. Ich kann gar nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob ich den anhängigen Läufer eingeholt habe, oder ob dieser mit einer letzten Anstrengung zu mir auflief.
Jetzt jedenfalls klemmt er sich meist direkt hinter mich, setzt immer wider zu kleinen Tempoverschärfungen an, um anscheinend von mir weg zu kommen, aber dann doch wieder, just an mir vorbei, langsamer zu werden. Und sein Satellit auf zwei Rädern schwirrt ständig um uns herum. Links, rechts, vor, zurück. Ständig die Befürchtung ihm hinten reinzulaufen, akustisch untermalt durch das monotone Surren des Freilaufs seines Rades. Nein, das halte ich in meinem aktuellen Zustand wirklich nicht aus. Nach ein paar Kilometern habe ich die Faxen so dermaßen dicke, ich bringe eine Menge Kraft auf, die ich gar nicht mehr habe, verschärfe leicht das Tempo und werde ein paar Sekunden pro Kilometer schneller. Zum Glück erhalte ich so meinen Status als Einzelkämpfer zurück; er gibt auf, ich drehe mich nicht um, höre aber an seinem langsam abklingenden Atemgeräusch, wie er sich zurückfallen läßt. Hach, ist das friedlich. Nun - jetzt kann ich mich über nichts mehr ärgern, bin nicht mehr abgelenkt. Mir fällt wieder deutlich auf, da war was. Genau, du bist hier und du bist kaputt. Die Verschärfung hat es nicht wirklich besser gemacht. Und gerade, wo die Anzahl der noch zu bewältigen Kilometer einstellig werden, wo ich beginne zu spüren, daß der heutige Lauf auch ein Ende haben wird, sackt mein Tempo nochmals deutlich ab. Mir geht es durch den Kopf, ist doch auch egal, die paar Sekunden. Und das alte Tempo würde ich jetzt nicht mehr ertragen. Da fällt es doch allzu leicht sich mit dem langsamen Tempo zu arrangieren. Ich hänge so bei 4:13/km, komme mir elendig langsam vor, aber von hinten kommt trotz dessen niemand. Ok, weiterlaufen, ist nicht mehr weit. Vereinzelte applaudierende Zuschauer, ansonsten einige Spaziergänger, die kaum Notiz von mir nehmen. Egal. Weiter, nur weiter. So ziemlich ist mir alles egal. Hauptsache ich muß nicht gehen, kann weiterlaufen.
In meinem Kopf ist es flau, mein Kreislauf fordert zunehmend Tribut des zu intensiven Beginns. Wäre in mir der unbedingte Wille, alles aus mir herauszuquetschen, ein Garnichts an Zeit zu verschenken, nicht eine einzige Hirnzelle mit über die Ziellinie retten zu wollen, ja, dann würde ich das flaue Gefühl wahrscheinlich ausblenden und nichts davon mehr spüren, könnte ich vielleicht schneller laufen.
Ich spreche innerlich zu mir, nein, bewahre die Kraft, bald ist Röntgenlauf.
Ich bin so kaputt, da bewahre ich höchstwahrscheinlich gar nichts, aber es klingt so gut und vernünftig. Genau, beschwichtige ich mich, ich laufe jetzt manierlich bis ins Ziel.
Es geht um ein paar Kurven, mein Blick schweift am Ufer des Sees entlang und dich sehe das Ziel, ich meine, den von dort ausgestrahlten Lärm hören zu können. Es sind noch drei Kilometer. Drei Kilometer! Ein Klacks. Im Geist bin ich schon dort im Ziel, stehe und lasse mir mein Erdinger schmecken.
Das wird dann auch der Grund sein, warum dieser letzte Abschnitt mit 4:18/km den Tagesnegativrekord für mich darstellen.
Selbst als ich die schier endlose Gerade, vorbei am Spalier der applaudierenden Zuschauermenge der Regattatribüne entlangtrotte, beschleunige ich nicht. Bei der ganzen verlorenen Zeit - nö, ich will nicht, mein Schritt ist mir anstrengend genug.
Ich schiebe mich immer weiter durch, merke, ganz schön eng hier, so viele Leute, da bin ich schon an der letzten Kurve, der Spitzkehre um die Tribüne auf die etwa 150 Meter lange Zielgerade. Ich spüre das erste Mal am heutigen Tag keinen Asphalt mehr unter meinen Füßen, feiner Schotter, mein Blick schweift nach vorn. Ich sehe den Zielbogen, sehe die Uhr. 2h46'xx", naja egal. Andreas Menz, auch im Ziel Moderator, kündigt mich an, ich höre ihn über die Lautsprecher, er streckt den Arm aus, ich klatsche ihn im Vorbeilaufen ab. Und schon ist es auch vorbei, meine Uhr soll heute keine weitere Sekunde mehr sammeln. Ich drücke sie ab, 2h46'45". Absolut gesehen eigentlich keine so schlechte Zeit, nicht viel mehr als zwei Minuten über meiner Bestzeit. Aber nicht so wirklich das, was ich mir heute morgen beim Loslaufen so vorgestellt habe. Der erste Kilometer in 3:42 der letzte etwa sechsunddreißig Sekunden langsamer. Passiert.

Was soll ich resumierend schreiben? Daß ich eine bessere Zeit hätte erreichen können, wäre ich langsamer angelaufen? Bestimmt. Daß es mir heute nich möglich war, mein versuchtes Tempo als Marathontempo zu laufen? Wohl war. Daß gezieltes Marathontraining das Optimum für das Laufen eines Marathons darstellt? Möglicherweise.
Ärgert mich das jetzt? Nein, der Lauf war ein Test und ok, ich müßte mich über meine Form grämen. Die könnte besser sein, wäre ich nicht den fünften Marathon im Dreiwochenrhythmus gelaufen. Mit diesem waren die letzten vier gut, keiner herausragend. Das ist wohl der zu zollende Tribut der Vielstarterei.

Schließen möchte ich mit einem Zitat aus einer Email, die ich am späten Abend nach dem Rennen schrieb:
"Was ich definitiv mitnehme sind viele mir bisher unbekannte Erfahrungen (bei nem richtigen M so weit vorne zu laufen ist mir neu) und ein gutes Gefühl, daß mein Ziel für heute nicht utopisch war, sondern nur nicht erreichbar."

gruß,
Christian Thiel



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