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Bericht

Name des Laufes:Bieler Lauftage
mehr zum Lauf: VID5263
Datum des Laufes:15.6.2007 (Fri)
Ort:Biel/Bienne
Plz:CH
Homepage:http://www.100km.ch
Strecken:100 km, MA, HM, 14.5km
Beschaffenheit:Landschaftslauf durch die Nacht
Profil:Für 100 Kilometer kaum hügelig, dennoch Tücken...
Wetter:Unbeständig aber dann doch insgesamt sehr fair.
Teilnehmer:gut 2.200
Name des Berichtenden: Finisher 20XX LID3932
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Bericht vom 1.7.2007 (Sun)
Das Buch der Läuferlegende Werner Sonntag „Irgendwann musst Du nach Biel“ bekam ich bereits in den Achtziger Jahren in die Hand. Er beschreibt darin seine Erfahrungen und Empfindungen bei einem für mich damals unvorstellbaren Unterfangen: Eine spektakuläre „Nacht der Nächte“ im schweizerischen Biel - ein traditionell am späten Abend gestarteter Hundertkilometerlauf quer durch eine stockdunkle Hügellandschaft und nächtlich belebte Dörfer. Ein läuferischer Rundkurs durch eine komplette Nacht, welcher keinen Teilnehmer unberührt lässt - bis er (oder sie) im Licht des neuen Tages gewandelt dem persönlichen Finale entgegenstrebt. Über 20 Jahre lediglich unerreichbares Traumgespinst, war mir die Faszination dennoch erhalten geblieben. Vieles lief darauf zu und mit etwas Glück erwarb ich mir in diesem Jahr nun das Privileg, mich mit diesem Mythos endlich auseinanderzusetzen zu dürfen.

Mein persönliches Abenteuer begann mit einer ganzen Serie von kleineren und größeren Handicaps. Nachdem ich geradezu verblüffend fit durch den Winter gekommen war, hatte mein inneres Drängen irgendwann über meine Vorsicht gesiegt und „Von nichts kommt nichts!“ So zog ich mein Training frühzeitig an, bekam Syltlauf und Hamburg-Marathon noch solide über die Bühne, vollzog jedoch bereits in dieser lang gezogenen Vorbereitungsphase eine permanente Gradwanderung, um meine Überlastungswehwehchen noch im Griff zu behalten. Die Kunst bestand natürlich in der Balance zwischen Trainingsreizen und Regeneration – ein alter Hut, aber auf meinen konkreten Alltag herunter gebrochen hatte ich damit dennoch arge Probleme. Irgendwann machte ich mir dann jedoch einfach keinen Kopf mehr und versuchte lediglich, meine konkret anstehenden Hausaufgaben zu machen – nicht mehr und nicht weniger und so gut mir dies eben möglich war. Mit etwas Glück kam ich dann tatsächlich stabil durch die restliche Vorbereitung – bis mich eine fiebrige Erkältung inmitten meiner abschließenden Trainingsphase dann doch noch komplett lahmlegte. So packte ich meine Beine notgedrungen deutlich rechtzeitiger hoch als üblich, absolvierte nur noch zwei sehr sorgsam dosierte Testläufe am Rande des Möglichen und baute ansonsten darauf, dass ich am Ende der solcherart auf fast 3 Wochen verlängerten Regenerationsphase das Laufen schon nicht verlernen haben würde.

Selten fällt es mir leicht, mich aus der heimischen Geborgenheit loszulösen - aber wenn ich dann erst einmal unterwegs bin, agiere ich nur noch, bin ich bei aller Daseinsfreude enorm auf das Ziel hin konzentriert. So war es auch diesmal. Die für Schweizer Verhältnisse zwar relativ preisgünstige, meinen sonstigen Vorlieben aber ansonsten komplett widersprechende Unterbringung in einer Zivilschutzbunkeranlage nahm ich ebenso duldsam hin wie die uns dort unnötig lieblos dargebotene Verpflegung. Mein Umfeld störte sich hieran anscheinend kaum - bei einer so traditionsreichen Veranstaltung haben sich eben viele Rituale eingeschliffen. Diversen Finisher-Shirts konnte ich daneben entnehmen, dass viele der anwesenden älteren Semester deutlich mehr draufhaben mussten, als man es ihnen ansonsten auch auf den zweiten Blick zutrauen würde. Bis zum Start hatte jeder mit sich zu tun, aber binnen weniger Stunden fühlte ich mich in dieser verschrobenen Gemeinschaft wunderbar aufgehoben und geborgen. Schlecht geschlafen habe ich zwar trotzdem, doch machte mir dies nichts aus, denn vor solchen Herausforderungen scheint mein Adrenalinspiegel bereits an den Tagen zuvor schubweise hochzufahren. Umso stärker ist jedoch die mich überkommende ruhige Zuversicht, sobald es dann wirklich losgeht.

Für unsere Nacht der Nächte war seit Tagen schwerer Dauerregen vorausgesagt, aber als es dann am entscheidenden Vormittag tatsächlich endlose Bindfäden zu regnen begann, war ich dennoch beeindruckt. Doch wir weilten ja in der Schweiz und wer vermag schon das präzise Wetter für eine solch spezielle Region vorhersagen? Kollektiv stellten wir uns auf die äußerst unbequeme Möglichkeit eines kompletten Regenlaufs ein, doch die Hoffnung stirbt bekanntermaßen zuletzt. Nicht zu unrecht, denn am frühen Abend schritt plötzlich jemand in unseren Bunkerraum und berichtete von einem Wetterwechsel in der Außenwelt. Skeptische Freude und spontane Wetterbegutachtungen im 10-Minuten-Takt. Bis in den späten Abend hinein blieb es dann aber tatsächlich trocken und als wir zum Startgelände schlenderten, lächelte uns sogar eine wunderschöne Abendsonne zum Geleit.

Auf dem Startgelände fielen mir sogleich die zahlreichen Fahrradbegleiter auf, die schwer bepackt und top ausgerüstet ebenfalls einer anstrengenden Nacht entgegensahen. Jeder vollzog seine persönliche Routine (Anfänger starten woanders), aber peu à peu versammelten sich die gut 2.200 Teilnehmer hinter dem Startbanner und ließen in der dann erst jetzt einsetzenden Dunkelheit die obligatorischen Ansprachen und letzten Minuten an sich vorüberziehen. Pünktlich um 22:00 fiel der zuletzt herbeigesehnte Startschuss - endlich ging es los! An Warnungen vor einem rasanten Anfangstempo hatte es nicht gemangelt, aber selbst wenn man es schaffen sollte, sich dies im passenden Moment auch tatsächlich bewusst zu machen, so folgt der Körper doch seinen eigenen Gesetzen. Viele meiner Mitstarter hätten auf den ersten Kilometern sicherlich ebenfalls kaum Probleme gehabt, quasi en passant ihre persönlichen Bestzeiten anzugreifen. Aber die gebunkerten Körner mussten ja für 100 Kilometer reichen und so bremste ich mich so gut ich nur konnte, versuche es zumindest. Ich hatte das Gefühl, dass ich sie alle laufen ließ - auch diejenigen, welche ich sonst niemals laufen lassen würde! Ich ließ mich sogar brav von zwei uniformierten Armeeangehörigen abhängen, die nebenbei viele Faxen machten und noch ausgelassen die Show genossen. Viele sah ich wieder – Laufklamotten sind nicht ohne Grund erfunden worden und daneben sollten die Muckies zur Entschlossenheit passen. Bis dahin hatten wir aber den frenetischen Applaus des Bieler Innenstadtpublikums genossen, waren nach etwa 7 Kilometern allesamt einen ruppigen Hügel hoch und die nachfolgenden steilen Passagen hinab gestürmt und hatten mehr oder weniger erfolgreich versucht, den großen Pfützen auf den ersten dunklen Feldwegkilometern auszuweichen. Zunehmend ging es dann aber für jeden Einzelnen darum, seinen individuellen Rhythmus in dieser noch sehr langen Nacht der Nächte zu finden.

Meine Strategie sah in etwa so aus: Erst einmal die ersten 55 Kilometer bis Kirchberg abspulen, dann relaxed den berühmt-berüchtigten Ho-Chi-Minh-Pfad überstehen und mich dann mit aufkommender Helligkeit über das letzte Drittel zum Ziel vorarbeiten. Da ich in der Dunkelheit meine Uhr nicht ablesen konnte und es bis Kirchberg tatsächlich einfach nur laufen ließ, verflüchtigte sich schon bald mein normales Zeitgefühl und registrierte ich das Stundenpiepen meiner Uhr nur noch am Rande. Ich war in meinem Rhythmus und mit mir im Reinen, horchte in mich hinein und richtete meine Aufmerksamkeit daneben notgedrungen beständig auf den Boden, freute mich über Mitläufer und Verpflegungsstände. Fasziniert war ich auch von den nach 20 Kilometern zu uns stoßenden Fahrradbegleitern. Ihre vergleichsweise gute Beleuchtung war hilfreich und hier und da plärrte sogar leise ein kleines Radio aus der Satteltasche. Die Leistung dieser offiziell kaum gewürdigten Helfer ist enorm und mir waren sie allesamt enorm sympathisch. Ohnehin freute ich mich über jeden Menschen, der diese dunklen Stunden mit mir teilte – und sei es bloß, dass wir langsam aneinander vorbeitrabten. Da mittlerweile jeder mehr oder weniger sein Tempo gefunden hatte, glichen solche Überholmanöver etwas den bestens bekannten Elefantenrennen auf der Autobahn.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Motivation sollte man noch vor dem Startschuss abgeschlossen haben. Mich selbst reizt die Umsetzung von Ideen in die Realität. Man bringt sich eben ein und versucht auf dem langen Weg zum Ziel sein Bestes. Einfach so - als spielerische Übung. Sinn erschafft jeder für sich selbst und erlebt ihn dann möglicherweise auch konkret im eigenen Tun. Mehr braucht es nicht und mit dieser Einstellung bin ich prima klargekommen.

Trotz der ausgezeichneten Streckenverpflegung setzte ich auf meine mitgeführten Energy-Gels – keine Experimente! Über gut 10 Stunden Laufzeit kommt daneben ein ordentlicher Flüssigkeits- und Mineralienverlust zustande und so trank ich bei jeder Gelegenheit diverse Becher Wasser, Brühe, Isogetränk und ab und zu auch eine Cola. Seltsamerweise bekam mir diese krude Mischung wunderbar. Bei der Unterwegsverpflegung dürfte es vorrangig allein darum gehen, seinen Flüssigkeits- und Salzhaushalt sowie seinen Blutzuckerspiegel zu stabilisieren - und dass einem von all dem einverleibten Zeugs nicht schlecht wird. Mental blieb ich stabil und der Körper zieht dann schon mit.

Plötzlich lief ich auf einen hell erleuchteten menschenübersäten Marktplatz - unübersichtlich und meine Sinne nach 55 weitgehend dunklen Kilometern überfordernd: Kirchberg! Ich war froh, hier keine Wechselklamotten deponiert zu haben und hielt mich nicht sonderlich lange auf. Beiderseitige Verwirrung, als ich wenige Meter weiter einen rauchenden dicklichen Streckenposten morgens gegen 03:15 Uhr im einsetzenden Regen fragte, wo es für die Hundertkilometerläufer weiterginge. Selten standen Gedanken so deutlich auf einer Stirn geschrieben, aber nach Unterquerung der nahen Autobahnbrücke wurde es wieder ruhig und dunkel und einsam und war ich wieder in meiner eigenen Welt.

Mit dem Ho-Chi-Minh-Pfad kam für mich die Schlüsselstelle des Laufs. Nach einem unspektakulären Einstieg wurde es stockdunkel. Links soll die Emme geflossen sein und rechts ging es auch hinab. Der von Bäumen überschirmte Pfad kombinierte Steine aller Größenklassen, tückische Wurzeln, glitschiges Gras und Schlamm. Ohne meine kleine Stirnlame wäre nichts gegangen. Diese Passage begeisterte mich morgens gegen 04:00 nicht gerade, doch gehört sie untrennbar dazu. Nach insgesamt etwa 67 Kilometern war es dann überstanden und warteten viele Fahrradbegleiter auf ihre jeweiligen Helden. Auf mich wartete niemand, aber der auch mir gespendete frühmorgendliche Applaus tat enorm gut und widerhallte in mir wie ein Fanal. Es war mittlerweile etwa 4:30 Uhr und der erste Hauch von Morgendämmerung lag in der Luft. Die Vögel zwitscherten und spürbar begann das Leben wieder zu erwachen. Und ich begann, die noch verbleibenden Kilometer rückwärts zu zählen…

Leider gewährt die große Kilometersumme selbst subjektiv keinen Mengenrabatt. Die jeweils 5 Kilometer zwischen den Entfernungstafeln zogen sich enorm in die Länge. Das Laufen wurde mühselig. Doch nachdem ich nun schon soweit gekommen war, kam in mir zugleich die erhoffte beflügelnde Gewissheit auf, welche mich in Richtung Ziel antrieb. Die Witterung von Stallgeruch gut 30 Kilometer vor dem Ziel! Doch zuvor galt es noch eine lang gezogene Steigung zu bewältigen, das Spektakel eines mächtigen Platzregens zu erdulden und vielen tiefen Pfützen entlang der Aare auszuweichen – aber dann kamen die (einzeln ausgeschilderten) letzten Kilometer! Nun erst ließ ich meiner Finisher-Euphorie wirklich freien Lauf und machte noch einmal Tempo – und genoss es. Zieleinlauf nach etwas über 10 Stunden – Zufriedenheit, die noch für Tage anhielt.

Die Rückkehr in die Normalität setzte große Emotionen frei. Hinter uns lagen intensive und sehr bewusst verlebte Stunden und wohl jeder Finisher dürfte bekennen, dass es sich gelohnt hat. Jürgen hat es leider nicht geschafft, aber er ist in guter Gesellschaft. Ausfälle von über einem Drittel des Starterfeldes scheinen üblich zu sein. Über den Einzelnen sagt dies jedoch wenig aus, denn in dieser Nacht kommen viele Faktoren zusammen und niemand hat alle davon im Griff. Es ist und bleibt eben ein Spiel mit einem Rest Abenteuer. Bei der Abfahrt am nächsten Morgen hatte ich unsere innerlich zunächst so abgelehnte Bunkerunterkunft geradezu in mein Herz geschlossen. Menschlich wertvolle Begegnungen wiegen halt schwerer als ein fehlendes Fenster. Bereits an der ersten Autobahnraststätte empfing uns dann aber wieder eine komplett andere Welt. Die innere Einstellung entscheidet. Irgendwann musste ich nach Biel… - jetzt bin ich da gewesen!


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